Das fünfte Zeichen
Arme des Mannes baumelten herunter. Die Hände waren von schwarzen Haaren bedeckt. Roger schoss es durch den Kopf, dass es natürlicher wirken würde, wenn er sie in die Jackentaschen steckte. Oder auf dem Rücken verschränkte. Oder vor der Brust. Man konnte meinen, er wolle mit den Händen irgendetwas machen. Nur was?
» Ja? «, fragte Roger Gjendem. Er hörte das Echo seiner Sti m me zwischen den Wänden widerhallen. Das darin mitschwin gende Fragezeichen.
Der Mann beugte sich vor. » Ihr kleiner Bruder sitzt in Uller s mo «, sagte der Mann.
» Ja, und? « Roger wusste, draußen stand die Morgensonne hoch über der Stadt, doch hier in den Autokatakomben war es mit einem Mal eisig kalt.
» Wenn er Ihnen etwas bedeutet, sollten Sie uns einen Gefallen tun. Verstanden, Gjendem? «
Roger nickte verblüfft.
» Wenn Hauptkommissar Harry Hole Sie anruft, tun Sie Fo l gendes. Fragen Sie ihn, wo er ist. Wenn er es Ihnen nicht sagen will, verabreden Sie ein Treffen mit ihm. Sagen Sie ihm, Sie würden seine Geschichte nicht drucken, wenn Sie nicht von Angesicht zu Angesicht mit ihm gesprochen haben. Das Treffen muss noch vor Mitternacht stattfinden. «
» Welche Geschichte? «
» Er wird möglicherweise mit unbegründeten Beschuldigungen gegen einen Hauptkommissar an Sie herantreten , dessen Namen ich hier nicht nennen will. Aber das braucht Sie nicht weiter zu kümmern. Es wird sowieso niemals gedruckt werden. «
» Aber … «
» Haben Sie mich verstanden? Sobald er Sie angerufen hat, melden Sie sich bei dieser Nummer und teilen uns mit, wo Hole ist oder wo Sie sich verabredet haben. Ist das klar? « Der Mann steckte die linke Hand in die Tasche und reichte Roger einen Zettel.
Roger starrte auf den Zettel und schüttelte den Kopf. So ängs t lich er war, musste er sich doch ein Lachen verkneifen. Oder vielleicht gerade deshalb.
» Ich weiß, dass Sie Polizist sind «, sagte Roger, der die Komik der Situation erkannte. » Sie müssten doch wissen, dass das nicht geht. Ich bin Journalist, ich kann nicht … «
» Gjendem. « Der Mann hatte die Sonnenbrille abgenommen. Trotz der Dunkelheit waren seine Pupillen nur kleine Punkte in einer grauen Iris. » Ihr kleiner Bruder sitzt in Zelle A 107. Jeden Dienstag bekommt er –wie viele andere Junkies dort –seine Dosis Drogen hereingeschmuggelt. Er setzt sich immer sofort einen Schuss und überprüft nie den Stoff. Bis jetzt ist das gut gegangen. Haben Sie mich verstanden? «
Das war keine Frage, Roger wusste, dass er richtig gehört hatte.
» Gut «, sagte der Mann. » Noch irgendwas unklar? «
Rogers Mund war wie ausgedörrt. » Warum glauben Sie, dass Harry Hole mich anrufen wird? «
» Weil er verzweifelt ist «, sagte der Mann und setzte sich wieder die Sonnenbrille auf. » Und weil Sie ihm vor dem Nationaltheater Ihre Visitenkarte gegeben haben. Einen schönen Tag noch, Gjendem. «
Roger blieb stehen, bis der Mann verschwunden war. Atmete tief die klamme, staubige Grabluft des Parkhauses. Und auf dem kurzen Weg zum Postgirobau waren seine Schritte langsam und zögernd.
Die Telefonnummern hüpften und tanzten auf dem Bildschirm vor Klaus Torkildsens Augen im Kontrollraum von Telenor, Region Oslo. Er hatte seinen Kollegen gesagt, dass er nicht gestört werden wolle, und die Tür abgeschlossen.
Sein Hemd war schweißnass. Nicht weil er zur Arbeit gerannt wäre. Er war gegangen –weder schnell noch langsam –, sein Büro vor Augen, bis die Frau an der Rezeption seinen Namen gerufen und ihn aufgehalten hatte. Den Nachnamen. Ihm war das lieber so. » Sie haben Besuch «, hatte sie gesagt und auf einen Mann gedeutet, der neben der Rezeption auf dem Sofa saß.
Torkildsen war überrascht. Überrascht, weil er in der Regel beruflich keinen Besuch bekam. Das war kein Zufall. Seine Berufswahl war wie sein Privatleben von dem Wunsch b e stimmt, nicht mehr mit anderen Menschen direkt in Kontakt zu kommen als unbedingt nötig.
Der Mann auf dem Sofa hatte sich erhoben, sich als Polizist vorgestellt und ihn gebeten, Platz zu nehmen. Torkildsen war auf seinem Stuhl immer kleiner geworden. Innerhalb kürzester Zeit war er am ganzen Körper schweißnass. Polizei. Seit fünf zehn Jahren hatte er nichts mehr mit ihr zu tun gehabt, und obgleich es auch damals nur eine Geldstrafe gewesen war, reagierte er augenblicklich mit Paranoia, wenn er auf der Straße auch nur eine Uniform sah. Und seit dem Moment, in dem der Mann den Mund aufgemacht hatte, war kein Fetzen
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