Das fünfte Zeichen
schnitt eine Grimasse. » Ihr habt doch auch nur eure Arbeit gemacht. «
» Ja. « Harry wippte auf den Füßen und warf einen Blick nach rechts und links über den Flur. » Ich bin mit einem Kollegen von der Spurensicherung dabei, das Zimmer von Marius Veland zu untersuchen. Wir sollten eine Mail erhalten, doch mein Laptop streikt plötzlich. Aber es ist sehr wichtig, und da ist mir eing e fallen, dass Sie am Samstag ja im Internet gesurft sind und … «
Sie gab ihm zu verstehen, dass er sich die restliche Erklärung sparen konnte, und hielt die Tür auf. » Der Computer läuft schon. Ich sollte mich vielleicht für die Unordnung entschuldigen. Hoffentlich stört es Sie nicht, dass mir so was egal ist. «
Er setzte sich vor den Bildschirm und öffnete das E-Mail -P rogramm. Dann nahm er den Zettel mit der Adresse von Eva Marvanova heraus und gab sie über die fettige Tastatur ein. Die Nachricht war kurz. Ready. This address. Senden.
Er drehte sich um und musterte das Mädchen, das sich aufs Sofa gesetzt hatte und in eine enge Jeans schlüpfte. Er hatte nicht einmal bemerkt, dass sie bloß einen Slip getragen hatte, vermutlich wegen des T-Shirts mit der großen Hanfpflanze darauf.
» Alleine heute? «, fragte er, um etwas zu sagen, während er auf Evas Antwort wartete. Er erkannte an ihrem Gesichtsausdruck, dass das keine besonders gelungene Einleitung für ein Gespräch war.
» Ich treibe es nur am Wochenende «, sagte sie und roch an einem Strumpf, ehe sie ihn anzog. Und grinste zufrieden, als sie bemerkte, dass es Harry die Sprache verschlagen hatte. Ihm fiel auf, dass sie mal wieder zum Zahnarzt gehen sollte.
» Sie haben eine Mail «, sagte sie.
Er drehte sich zum Bildschirm. Sie war von Eva. Kein Text, nur ein Anhang. Er klickte ihn an. Der Bildschirm wurde schwarz.
» Der ist alt und langsam «, sagte das Mädchen und grinste noch breiter. » Aber der kriegt das schon auf, Sie müssen nur warten. «
Vor Harry begann sich das Bild aufzubauen, erst ein Streifen blaue Glasur und dann –als der Himmel zu Ende war –graue Mauern und ein schwarzgrünes Monument. Dann kam der Platz. Und da waren die Tische. Sven Sivertsen. Und ein Mann in einer Lederjacke, den Rücken der Kamera zugewandt. Dunkle Haare. Kräftiger Nacken. Als Beweismaterial reichte das natürlich nicht aus, aber Harry zweifelte keine Sekunde daran, dass er Tom Waaler vor sich hatte. Doch das war es nicht, was ihn gebannt auf das Bild starren ließ.
» Sie, ich müsste mal aufs Klo «, sagte das Mädchen. Harry hatte keine Ahnung, wie lange er so dagesessen hatte. » Und das ist hier schrecklich hellhörig. Mir ist das ziemlich peinlich … Sie verstehen schon. Wenn Sie also … «
Harry stand auf, murmelte einen Dank und ging.
Auf der Treppe zwischen der dritten und vierten Etage blieb er stehen.
Das Bild.
Das konnte kein Zufall sein. Das war praktisch unmöglich.
Oder?
Wie auch immer, das konnte doch nicht wahr sein. So was machte niemand. Niemand.
KAPITEL 37
Montag. Beichte
D ie zwei Männer, die sich in der Kirche der Apostolischen Gemeinde der Heiligen Fürstin Olga gegenüberstanden, waren gleich groß. In der feuchtwarmen Luft hing ein Geruch nach süßem Rauch und saurem Tabak. Die Sonne brannte seit nunmehr fünf Wochen auf Oslo herab, und der Schweiß floss in Strömen unter Nikolaj Loebs dickem Wollgewand, während er das Gebet las, das die Beichte einleitete: » Gott, der unser Herz erleuchtet, schenke dir wahre Erkenntnis deiner Sünden und seiner Barmherzigkeit. «
Er hatte versucht, in einem Laden in der Welhavens Gate ein leichteres, etwas moderneres Priestergewand zu finden. Doch sie hatten ihm gesagt, sie hätten nichts für russisch-orthodoxe Pries ter. Als das Gebet beendet war, legte er das Buch neben dem Kreuz auf den Tisch zwischen ihnen. Gleich würde sich der Mann vor ihm räuspern. Sie räusperten sich immer vor ihren Bekenntnissen, als seien die Sünden eingehüllt in Schleim und Speichel. Nikolaj hatte das vage Gefühl, dem Mann schon einmal begegnet zu sein, erinnerte sich aber nicht daran, wo. Und der Name hatte ihm nichts gesagt. Der Mann hatte etwas überrascht dreingeschaut, als er begriff, dass die Beichte von Angesicht zu Angesicht stattfinden würde und er sogar seinen Namen nennen musste. Nun, Nikolaj hatte das sichere Gefühl, dass der angegebene Name nicht stimmte. Vielleicht stammte der Mann aus einer anderen Gemeinde. Gelegentlich kamen sie mit ihren Geheimnissen hierher, weil dies
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