Das fünfte Zeichen
schrillte.
» Wirklich weh, Harry. «
Die Tür fiel hinter Møller ins Schloss.
Eine Dreiviertelstunde später schlief Harry im Sessel ein. Ja, er hatte Besuch bekommen. Nicht von den drei üblichen Frauen. Vom Kriminaldirektor.
Vor vier Wochen und drei Tagen. Der Kriminaldirektor pe r sönlich hatte darum gebeten, sich im Boxer mit ihm zu treffen, einer Kneipe für die wirklich Durstigen, die nur einen Steinwurf, ein paar stolpernde Schritte durch die Gosse vom Polizeipräsid i um entfernt lag. Nur er selbst, Harry und Roy Kvinsvik. Er hatte Harry erklärt, das Beste sei, die Sache erst einmal ganz inoff i ziell anzugehen, solange noch keine Entscheidung gefallen war, damit ihm noch eine Rückzugsmöglichkeit bliebe.
Von Harrys Rückzugsmöglichkeiten war nicht die Rede gew e sen.
Als Harry eine Viertelstunde nach der vereinbarten Zeit ins Boxer kam, saß der Kriminaldirektor an einem der hinteren Tische mit einem Bier vor sich.
Harry hatte seinen Blick auf sich gespürt, als er sich ihm gegenüber hinsetzte. Der Blick aus den leuchtend blauen Augen in den dunklen Höhlen rechts und links des schmalen, majestät i schen Nasenrückens. Er hatte graues, dichtes Haar, hielt sich gerade und war schlank für sein Alter. Der Direktor war wie einer dieser Sechzigjährigen, bei denen man sich nicht vorstellen konnte, dass sie jemals jung gewesen waren. Oder dass sie jemals wirklich alt würden. Im Morddezernat nannten sie ihn » Mister President «, weil sein Büro oval war und weil er sich –insbesondere bei offiziellen Anlässen –so ausdrückte. Doch dieses Treffen war inoffiziell. Ganz inoffiziell.
Der lippenlose Mund des Kriminaldirektors öffnete sich: » Sie kommen allein? «
Harry bestellte sich ein Mineralwasser, nahm eine Speisekarte vom Tisch, betrachtete die Vorderseite und sagte dann so beiläufig wie möglich: » Er hat sich umentschieden. «
» Ihr Zeuge hat es sich anders überlegt? «
»Ja.«
Der Kriminaldirektor nahm einen tiefen Schluck aus seinem Bierglas.
» Er war über fünf Monate bereit auszusagen «, sagte Harry. » Zuletzt vorgestern. Glauben Sie, das Eisbein ist gut? «
» Was genau hat er gesagt? «
» Wir hatten abgemacht, dass ich ihn heute nach der Versam m lung im Gemeindezentrum abhole. Als ich dort ankam, meinte er zu mir, er habe es sich noch einmal überlegt. Er sei zu dem Schluss gekommen, dass es doch nicht Tom Waaler war, den er zusammen mit Sverre Olsen im Auto gesehen hat. «
Der Direktor starrte Harry an. Dann schob er mit einer Bew e gung, die Harry als den Schlusspunkt der Besprechung deutete, seinen Ärmel hoch und warf einen Blick auf die Uhr. » Wir müssen wohl davon ausgehen, dass es jemand anders war, den Ihr Zeuge da gesehen hat. Oder was meinen Sie, Hole? «
Harry schluckte. Und schluckte. Starrte auf die Speisekarte. » Eisbein. Ich glaube, ich nehme Eisbein. «
» Wie Sie wollen. Ich muss los, aber lassen Sie es auf meine Rechnung setzen. «
Harry lachte kurz. » Nett von Ihnen, Chef. Wenn ich ehrlich sein soll, dann habe ich das sichere Gefühl, dass ich zu guter Letzt doch die Zeche zahlen muss. «
Der Kriminaldirektor runzelte die Stirn, und als er sprach, bebte seine Stimme merklich: » Dann will ich auch ehrlich mit Ihnen sein, Hole. Mir ist bekannt, dass Sie und Hauptkommissar Waaler einander nicht ausstehen können. Ich habe, seit Sie diese vagen Anschuldigungen erstmals vorgebracht haben, das unbe stimmte Gefühl, dass Ihre persönliche Antipathie Ihr Urteilsver mögen beeinträchtigt. Dieser Verdacht ist mir –so sehe ich das jedenfalls –soeben bestätigt worden. «
Der Kriminaldirektor schob das halb volle Bierglas von der Tischkante weg und knöpfte sich den Mantel zu.
» Ich will es kurz machen. Kurz, aber hoffentlich deutlich genug, Hole. Der Mord an Ellen Gjelten ist aufgeklärt und die Akte hiermit geschlossen. Weder Ihnen noch sonst jemandem ist es gelungen, etwas substanziell Neues auf den Tisch zu legen, das weitere Nachforschungen rechtfertigen würde. Wenn Sie sich auch nur annähernd noch einmal mit diesem Fall beschäft i gen, werde ich das als Befehlsverweigerung auffassen und Ihre unterschriebene Kündigung an die Personalbehörde weiterleiten. Nicht etwa, weil ich bei korrupten Polizisten gerne ein Auge zudrücke, sondern weil es in meiner Verantwortung steht, die Arbeitsmoral in dieser Behörde auf einem einigermaßen anstän digen Niveau zu halten. Und da können wir keine Polizisten gebrauchen, die sich ständig
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