Das fünfte Zeichen
gegenseitig verdächtigen. Sollte mir zu Ohren kommen, dass Sie Tom Waaler weiterhin in irgendeiner Weise beschuldigen, werde ich Sie mit augenblic k licher Wirkung vom Dienst suspendieren und den Fall der internen Ermittlungsabteilung vorlegen. «
» Welchen Fall? «, fragte Harry leise. » Waaler gegen Gjelten? «
» Hole gegen Waaler. «
Als der Kriminaldirektor gegangen war, starrte Harry noch lange in sein halb volles Bierglas. Er hätte tun können, was der Kriminaldirektor von ihm verlangte, doch das hätte nichts geän dert. Er war so oder so fertig. Er war gescheitert und jetzt sogar als Risiko für seinesgleichen abgestempelt worden. Ein parano i der Verräter, eine tickende Bombe, von der man sich bei der erstbesten Gelegenheit trennen würde. Er musste ihnen nur einen Grund liefern.
Die Bedienung kam mit der Flasche Mineralwasser und fragte, ob er etwas essen oder trinken wolle. Harry fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, während sich die Gedanken in seinem Kopf überstürzten. Er musste ihnen nur einen Grund liefern. Um den Rest würden sich die anderen schon kümmern.
Er schob die Mineralwasserflasche beiseite und antwortete der Bedienung.
Das war vor vier Wochen und drei Tagen gewesen. Damals hatte es begonnen. Und nun hatte es geendet.
TEIL II
KAPITEL 8
DIENSTAG UND MITTWOCH. CHOW-CHOW
A m Dienstag stieg die Temperatur in Oslo auf neunundzwanzig Grad, und bereits gegen drei Uhr nachmittags strömten die Menschen aus den Büros zu den Badestränden bei Huk und in der Hervenbukta. Die Touristen sammelten sich in den Biergä r ten im Einkaufszentrum Aker Brygge und im Frognerpark. Dort knipsten sie schwitzend die obligatorischen Bilder vom Mon o lithen, ehe sie hinunter zum Springbrunnen zogen, in der Hoffnung, dass ihnen ein Windhauch etwas von der kühlenden Gischt schenkte.
Abseits der Touristenpfade war es still, und alles verlief wie in Zeitlupe. Straßenarbeiter mit bloßen Oberkörpern beugten sich über ihre Maschinen, Maurer blickten vom Gerüst am Reich s hospital auf leere Straßen, und Taxifahrer suchten sich schattige Standplätze, wo sie in Grüppchen über den Mord am Ullev å lsvei diskutierten. Nur in der Akersgata gab es Anzeichen gesteigerter Aktivität, denn die Sensationsdealer hatten sich von ihren Sommerlochphantasien abgewendet und sich begierig auf die Nachricht vom Mord gestürzt. Da auch hier viele der Festang e stellten im Urlaub waren, hatte die Redaktionsleitung alle verfügbaren Kräfte einberufen: vom Praktikanten bis zum arbeitslosen Politikredakteur. Nur die Kulturjournalisten blieben verschont. Trotzdem war es ruhiger als sonst, was vielleicht auch etwas mit dem Umzug der Aftenposten aus der tradition s reichen Zeitungsstraße in den Postgirobau im Zentrum zu tun hatte –in das Aftenposten— oder Posthaus, die unschöne klei n städtisch anmutende Variante eines Wolkenkratzers, der in de n w olkenfreien Himmel ragte. Man hatte den gelbbraunen Koloss ein wenig renoviert, ehe der Ausbau in Bjørvika beginnen sollte. Doch bisher konnte der Kriminaljournalist Roger Gjendem von seinem Büro aus nur den Plata, den Treffpunkt der Junkies, und ihre Open-air-Fixerstube hinter den Schuppen sehen, von der wunderbaren, neuen Welt noch keine Spur. Roger Gjendem ertappte sich manchmal dabei, wie er unten nach seinem Bruder Thomas Ausschau hielt. Doch der saß in Ullersmo ein, wegen eines Einbruchsversuchs bei einem Polizisten im letzten Winter. Wie blöd konnte man eigentlich sein? Oder wie verzweifelt. Wenigstens musste sich Roger keine Sorgen machen, plötzlich mit ansehen zu müssen, wie sich sein kleiner Bruder dort unten den goldenen Schuss setzte.
Die Redaktionsleitung der Aftenposten hatte keinen neuen Ressortleiter eingestellt, nachdem der letzte eine Abfindung genommen hatte –eine weitere Rationalisierungsmaßnahme –, sondern das Ressort Gesellschaft und Kriminalität einfach in die Nachrichtenabteilung eingegliedert. Was in der Praxis bedeut e te, dass Roger Gjendem sich mit einfachem Journalistengehalt als Redakteur für Kriminalsachen hatte einarbeiten müssen. Er saß an seinem Schreibtisch, die Finger auf der Tastatur, und blickte auf das Bild der lächelnden Frau, das er einmal als Bildschirmhintergrund eingescannt hatte. In Gedanken war er bei der Frau, die gerade zum dritten Mal ihre Koffer gepackt und ihn und die gemeinsame Wohnung in der Seilduksgata verlassen hatte. Er wusste, Devi war dieses Mal wirklich gegangen. Es wurde Zeit, sie zu
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