Das fünfte Zeichen
Harry trat an die Wand und stellte sich vor die Karte. Dann riss er sie mit einem Ruck von der Wand und stopfte sie in eine der leeren Schubladen. Er zog einen silbernen Flachmann aus der Jackentasche, nahm den letzten Schluck daraus und lehnte die Stirn an das kühlende Metall des Schranks.
Seit mehr als zehn Jahren arbeitete er hier in diesem Büro. Zimmer 605. Das kleinste Büro in der roten Zone des sechsten Stocks. Auch nachdem sie die merkwürdige Idee gehabt hatten, ihn zum Hauptkommissar zu machen, hatte er darauf bestanden, sein Büro zu behalten. 605 hatte keine Fenster, und doch hatte er von hier aus die Welt betrachtet. Auf diesen zehn Quadratm e tern hatte er seinen Beruf erlernt, Siege gefeiert, Niederlagen verdaut und sich das bisschen Menschenkenntnis angeeignet, über das er verfügte. Er fragte sich, was er in diesen zehn Jahren eigentlich noch gemacht hatte. Es musste doch etwas geben, man arbeitete doch nicht mehr als acht bis zehn Stunden pro Tag. Maximal zwölf. Plus die Wochenenden.
Harry ließ sich in den defekten Bürostuhl fallen, und die kaputten Federn schrien voller Freude auf. Die paar Wochen konnte er es auch noch hier aushalten.
Um 17.25 Uhr war Bjarne Møller normalerweise längst zu Hause bei Frau und Kind. Doch er hatte sich entschlossen, ihren Aufenthalt bei der Großmutter und die Urlaubsruhe dafür zu nutzen, den liegen gebliebenen Papierkram aufzuarbeiten. Der Mord am Ullevålsvei hatte diese Pläne kurzzeitig durchkreuzt, aber er hatte sich entschlossen, das wieder aufzuholen.
Als sich die Notrufzentrale meldete, antwortete Møller verä r gert, sie sollten sich an den Wachhabenden wenden, das Mord dezernat sei nicht für vermisste Personen zuständig.
» Tut mir Leid, Møller. Die Kriminalwache ist mit einem Wiesenbrand in Grefsen beschäftigt. Der Anrufer war sich sicher, dass die Vermisste einem Verbrechen zum Opfer gefallen sein muss. «
» Alle, die noch hier sind, arbeiten an dem Mordfall im Ullevålsvei. Das … « Møller hielt abrupt inne. » Oder Moment. Lassen Sie mich etwas prüfen … «
KAPITEL 9
Mittwoch. Vermisst
D er Beamte stieg widerwillig auf die Bremse, und der Polize i wagen hielt vor der roten Ampel am Alexander Kiellands Plass.
» Oder sollen wir die Musik anmachen und Gas geben? «, fragte der Beamte, an seinen Beifahrer gewandt.
Harry schüttelte abwesend den Kopf. Er blickte zum Park hinüber, wo früher nichts als eine Wiese mit zwei Bänken gewe sen war, auf denen die Penner gesessen und gesungen hatten, um den Verkehrslärm zu übertönen. Doch vor ein paar Jahren war beschlossen worden, diesen Platz mit dem klangvollen Schriftstellernamen für ein paar Millionen neu zu gestalten. Alles war planiert worden, bepflanzt, asphaltiert, Wege waren angelegt worden und ein Springbrunnen, der eher einer Lach s treppe glich. Ganz ohne Zweifel lieferte er den Gesängen, Streitereien und Trinksprüchen der Ewigdurstigen einen ange messeneren Hintergrund.
Der Wagen bog nach rechts in die Sannergata ein, überquerte die Brücke über den Akerselva und hielt vor der Adresse, die Harry von Møller genannt bekommen hatte.
Harry sagte dem Beamten, er würde sich selbst um den Rüc k weg kümmern, trat auf den Bürgersteig und reckte sich. Das neu erbaute Bürohaus gegenüber stand leer, und das würde den Zeitungen zufolge auch noch eine ganze Weile so bleiben. In den Fenstern spiegelte sich das Haus, in das er wollte, ein weißes Gebäude etwa aus den vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, der Stil dem Funktionalismus nahe. Die Fassade war reich mit Graffiti verziert. A n d er Bushaltestelle kaute ein dunkelhäutiges Mädchen Kaugummi, die Arme vor der Brust verschränkt, und musterte eine große Diesel-Werbung auf der anderen Straßenseite.
Harry fand den Namen neben dem obersten Klingelknopf. » Polizei «, sagte Harry in die Gegensprechanlage und bereitete sich innerlich auf die Treppen vor.
Eine seltsame Erscheinung wartete oben in der Türöffnung auf ihn, als er schnaufend anlangte. Ein Mann mit gewaltiger, unge pflegter Mähne, schwarzem Bart, burgunderrotem Gesicht und einem farblich passenden kuttenartigen Gewand, das ihn vom Hals bis zu den in Sandalen steckenden Füßen einhüllte.
» Schön, dass Sie so schnell kommen konnten «, sagte der Mann und hielt ihm eine Pranke hin.
Denn es war eine Pranke. Willy Barlis Hand war so groß, dass sie Harrys komplett umschloss.
Harry nannte seinen Namen und versuchte, seine Hand
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