Das fünfte Zeichen
bauen? «
» Man ließ mich nicht. Es wird keinem was geschenkt, Harry. Als ich klein war, habe ich den anderen Kindern die Legosteine weggenommen, damit meine Gebäude groß genug wurden. Die Frage ist, was man haben will. Kleine, kümmerliche Häuschen für Menschen mit kleinen, kümmerlichen Leben. Oder Oper n häuser und Kathedralen. Großartige Bauwerke, an denen man wächst. Eben etwas, nach dem es sich zu streben lohnt. «
Waaler strich mit einer Hand über das Stahlgeländer: » Do m bauherr zu sein ist eine Berufung, Harry. In Italien haben Maurer, die beim Bau einer Kirche umkommen, Märtyrerstatus. Und obwohl die Dombauherren für die Menschen bauten, gibt es keine einzige Kathedrale in der Geschichte, die nicht auf Menschenknochen und Menschenblut errichtet worden ist. Das pflegte mein Großvater immer zu sagen. Und so wird es immer sein. Das Blut meiner Familie steckt in dem Mörtel vieler Bauten, die du von hier aus siehst. Ich will nur mehr Gerechti g keit. Für alle. Und ich will die Baumaterialien verwenden, die nötig sind. «
Harry studierte die Glut seiner Zigarette. » Und ich bin als Baumaterial vorgesehen? «
Waaler lächelte. » Das ist eine nette Art, das auszudrücken. Aber die Antwort lautet ja. Wenn du willst. Ich habe die Wahl … «
Er beendete den Satz nicht, aber Harry wusste, wie die For t setzung lauten würde: » … du aber nicht. «
Harry nahm einen tiefen Zug von der Zigarette und fragte leise: » Was, wenn ich mich bereit erkläre einzusteigen? «
Waaler zog eine Augenbraue hoch und sah Harry lange an, ehe er antwortete: » Du wirst einen ersten Auftrag bekommen, den du allein und ohne weitere Fragen ausführen musst. Alle vor dir haben die gleiche Aufgabe erhalten. Als Beweis für deine Loyalität. «
» Und das wäre? «
» Das wirst du rechtzeitig erfahren. Allerdings wirst du ein paar Brücken zu deinem früheren Leben abbrechen müssen. «
» Die Gesetze des Landes zu brechen eingeschlossen? «
» Wahrscheinlich. «
» Aha «, sagte Harry. » Damit ihr etwas gegen mich in der Hand habt. Damit ich nicht in Versuchung komme, euch zu verraten. «
» Die in dem gelben Bikini «, sagte Waaler. » Eine gewagte Farbe für einen Bikini, nicht wahr? «
In Harrys Bauch zog sich etwas zusammen, und er richtete sich abrupt wieder auf.
» Wir sind nicht dumm «, sagte Waaler, ohne den Blick vom Rasen zu heben.
» Wir beobachten, wen wir gerne bei uns hätten. Sie hält sich tapfer, Harry. Ist klug und selbstbewusst, allem Anschein nach. Aber eigentlich will sie, was alle Frauen in ihrer Situation wollen. Einen Mann, der sie versorgen kann. Das ist die reine Biologie. Und du hast wenig Zeit. Frauen wie sie bleiben nicht lange allein. «
Harry fiel die Zigarette aus der Hand. Ein Funkenschweif folgte ihr in die Tiefe.
» Gestern gab es eine Waldbrandwarnung für die ganze Reg i on «, sagte Waaler.
Harry antwortete nicht. Er zuckte zusammen, als er Waalers Hand auf seiner Schulter spürte.
» Streng genommen ist die Frist bereits abgelaufen, Harry. Aber als Zeichen unseres Wohlwollens gebe ich dir noch zwei Tage. Höre ich in dieser Zeit nichts, ziehen wir das Angebot zurück. «
Harry schluckte und schluckte, er versuchte, dieses eine Wort zu sagen, aber seine Zunge weigerte sich, ihm zu gehorchen, und seine Speicheldrüsen fühlten sich an wie ausgetrocknete Flussläufe in Afrika.
Zum Schluss gelang es ihm dennoch.
» Danke. «
B eate Lønn mochte ihre Arbeit. Ihr gefiel die Routine, die Sicherheit, sie wusste, dass sie gut war, und sie wusste, dass auch die anderen in der Kriminaltechnik in der Kjølberggata 21a es wussten. Und weil sie außer der Arbeit nichts in ihrem Leben für wichtig erachtete, stand sie jeden Morgen früh auf. Alles andere war Tinnef. Sie wohnte zu Hause bei ihrer Mutter in Oppsal, wo sie die erste Etage für sich allein hatte. Sie kamen gut miteinander aus. Zu seinen Lebzeiten war sie stets der Liebling ihres Vaters gewesen, und sie glaubte, dass sie deshalb bei der Polizei angefangen hatte. Sie hatte keine Hobbys. Und obwohl sie und Kriminalassistent Halvorsen, mit dem Harry sich das Büro teilte, eine Art Paar geworden waren, konnte sie nicht sicher sagen, ob das so bleiben würde. In einer Frauenzeitschrift hatte sie gelesen, dass man diese Art Zweifel nie los wurde. Und dass man besser ein gewisses Risiko einging. Beate Lønn gefiel es nicht, Risiken einzugehen. Oder zu zweifeln. Deshalb gefiel ihr ihre Arbeit. In ihrer Jugend war
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