Das fünfte Zeichen
sie allein bei dem Gedanken rot geworden, jemand könnte an sie denken. Deshalb hatte sie die meiste Zeit damit verbracht, möglichst nicht aufzufallen. Noch immer wurde sie rot, doch sie hatte eine gute Technik entwickelt, unbeachtet zu bleiben. Hinter den alten roten Mauern der Kriminaltechnik konnte sie stundenlang Fing e rabdrücke studieren, ballistische Berichte, Videoaufzeichnun gen, Stimmenanalysen, DNA-Profile, Textilfasern, Fußabdrücke oder Blut –was immer es an Spuren gab, die dazu beitrugen, große, komplizierte, verworrene Fälle in vollkommener Ruhe und Stille zu lösen. Sie hatte außerdem herausgefunden, dass es nicht weiter gefährlich war, bei der Arbeit sichtbar zu sein. Sie musste nur laut und deutlich sprechen und die Angst unterdr ü cken –die Angst, rot z u w erden, das Gesicht zu verlieren oder die Kleider –und die oft grundlose Scham, vor den anderen bloßgestellt zu werden. Das Büro in der Kjølberggata war ihre Festung geworden, die Uniform und ihr Beruf ihre mentale Rüstung.
Die Uhr zeigte 00.30, als das Telefon sie aus der Lektüre eines Laborberichts über Lisbeth Barlis Finger riss. Ihr Herz begann schnell und furchtsam zu schlagen, als sie auf dem Display das Wort » unbekannt « las. Das konnte nur eins bedeuten: dass er es war.
» Beate Lønn. «
Er war es. Die Worte prasselten auf sie ein wie Schläge: » Warum hast du mich nicht angerufen und mir etwas von den Fingerabdrücken gesagt? «
Sie hielt für eine Sekunde den Atem an, ehe sie antwortete: » Harry sagte, er würde dich informieren. «
» Danke, das hat er. Nächstes Mal rufst du mich sofort an. Ist das klar? «
Beate schluckte, sie wusste nicht, ob aus Furcht oder aus Wut. » In Ordnung. «
» Hast du ihm sonst noch etwas erzählt, von dem ich nichts weiß? «
» Nein. Nur, dass ich inzwischen die Resultate habe, was sich unter dem Nagel des Fingers befunden hat, den wir mit der Post bekommen haben. «
» Lisbeth Barlis? Und was? «
» Exkremente. «
» Was? «
» Scheiße. «
» Danke, ich weiß, was das ist. Eine Idee, wo das herkommen kann? «
» Äh, ja. «
» Besser gesagt, von wem? «
» Ich weiß es nicht sicher, aber ich habe eine Vermutung. «
» Könntest du so nett sein und … «
» Unter diesen Exkrementen war Blut, vielleicht von einer Hämorrhoide. In diesem Fall Blutgruppe B. Die haben nu r e twa sieben Prozent der Bevölkerung. Willy Barli ist als Blutspender registriert. Er hat … «
» Verstehe. Und was schließt du daraus? «
» Ich weiß nicht «, sagte Beate schnell.
» Aber du weißt, dass der Anus eine erogene Zone ist, Beate? Bei Frauen wie bei Männern? Oder hast du das vergessen? «
Beate kniff die Augen zu. Wenn er jetzt nur nicht wieder davon anfing. Es war lange her, und sie hatte zu vergessen begonnen. Begonnen, es aus dem System zu verdrängen.
Aber da war seine Stimme, hart und glatt: » Du kannst so gut das brave Mädchen spielen, Beate. Das gefällt mir. Es gefällt mir, dass du so tust, als hätte es dir nicht gefallen. «
Du, ich – davon weiß … keiner, dachte sie.
» Macht es dir Halvorsen genauso gut? «
» Ich muss jetzt auflegen «, sagte Beate.
Sein Lachen rasselte an ihrem Ohr. Und da verstand sie. Dass es keinen Ort gab, an dem sie sich verstecken konnte. Dass sie dich überall finden konnten, genau wie sie die drei Frauen gefunden hatten, da wo sie sich am sichersten gefühlt hatten. Denn es gab keine Festung. Keine Rüstung.
Ø ystein saß am Taxistand in der Thereses Gate in seinem Wagen und hörte die Stones, als das Telefon klingelte.
» Oslo Ta … «
» Hallo Øystein, hier ist Harry. Hast du wen im Auto? «
» Nur Mick und Keith. «
» Wen? «
» Die beste Band der Welt. «
» Øystein. «
»Ja?«
» Die Stones sind nicht die beste Band der Welt. Nicht einmal die zweitbeste. Sie können sich wohl rühmen, die überschätzte s te Band der Welt zu sein. Aber weder Mick noch Keith hat › Wild Horses ‹ geschrieben, das war Gram Parsons. «
» Das ist doch Unsinn, und das weißt du, ich leg jetz t a uf … «
» Hallo? Øystein? «
» Sag etwas Nettes, los. «
»› Under My Thumb ‹ ist ziemlich gut. Und › Exile On Main Street ‹ hat auch ’ n paar gute Elemente. «
» Okay, was willst du? «
» Ich brauche Hilfe. «
» Es ist drei Uhr nachts. Solltest du nicht schlafen? «
» Kann nicht «, sagte Harry. » Ich krieg die Panik, sobald ich die Augen zumache. «
» Die gleichen Albträume wie früher?
Weitere Kostenlose Bücher