Das fuenfunddreißigste Jahr
ablieferte.
Ich ekelte mich vor dem Ausmaß der Verwahrlosung in Tonis Wohnung. Dennoch war es besser, als bei mir zuhause aufzuwachen. Ich mied mein Zimmer so gut ich konnte, da ich dort mit mir allein und somit auf mich selbst zurückgeworfen war. Ich wollte mich jedoch nicht mit mir – meinen Möglichkeiten und Versäumnissen – auseinandersetzen, sondern von mir ablenken. Ich sagte mir, dass die Zeit für diese Auseinandersetzung kommen, irgendwann geradezu eine körperliche Notwendigkeit darstellen würde – aber nicht jetzt oder in nächster Zeit.
Anfangs behandelte ich den Alkohol wie eine Zufallsbekanntschaft, mit der ich mich abgab, solange sie mich amüsierte, von der ich mich jedoch abwandte, sobald sie mich zu nerven begann. Wenn ich abends allein oder mit Freunden durch die Lokale zog, brauchte ich eine gewisse Menge Bier oder Wein, um in Fahrt zu kommen. Das Fortgehen büßte in nüchternem Zustand viel von seiner Faszination ein, sodass ich mir einen Abend ohne Alkohol nicht mehr vorstellen konnte.
Ich kann nicht sagen, wie es schließlich dazu gekommen ist, dass nicht Sekunden und Minuten, sondern Promille nicht nur der Nacht, sondern auch meinem Tag eine Struktur gaben. Es wäre angenehm, wenn ich mit dem Finger auf etwas zeigen und ausrufen könnte: Das war es! Aber so einfach ist es nicht.
Ich war damals 28 und hatte mich von meiner Freundin getrennt; den Gedanken an eine akademische Laufbahn verworfen, auf die ich zu meiner eigenen Überraschung (ich war ein talentierter, aber disziplinloser Schüler) hingearbeitet hatte; mich daraufhin heillos mit meiner Mutter zerstritten. Letzteres wog nicht ganz so schwer, da wir uns im Laufe der Jahre an das immer wieder aufflammende Schweigen zwischen uns und das Unverständnis füreinander auf eine Weise gewöhnt hatten, als handelte es sich um eine Naturgesetzlichkeit, die man achselzuckend zur Kenntnis nimmt.
Ich weiß nicht, ob all das Anlass genug ist, dass man im Trinken Halt sucht. Manchmal erscheint mir diese Auflistung geradezu lächerlich. Es ist so, als würde man nach dem Einleuchtenden greifen, um das spürbar darunter Verborgene nicht ans Licht zerren zu müssen.
Der Grund dafür, warum das Trinken und das Verdrängen so oft Hand in Hand gehen, besteht darin, dass das Trinken – nicht zuletzt, wenn es sich zum Saufen ausgewachsen hat – eine Verhinderung oder Verweigerung von Reflexion darstellt. Trinken bedeutet, nicht nachzudenken, am allerwenigsten über sich selbst. Jeder Schluck bereitet einem Gedanken ein gewaltsames Ende, löscht Bilder aus, setzt einen Punkt hinter einen unvollständigen Satz. Eingeschlossen in diese Verweigerung ist die Person des Trinkers, die lange vom Trinken abgespalten bleibt, ganz so, als handelte es sich bei einem Glas Johnnie Walker um ein real existierendes Gegenüber, mit dem man sich vernünftig unterhalten kann. Trinker und Trinken gehen erst dann eine Symbiose ein, wenn das gefüllte Glas gleichsam eine Außenstelle des Ichs darstellt. Bis der Alkohol schließlich überall ist, Innen und Außen verschwimmen, und man sich als Teil eines in seinen Ausmaßen nicht zu erkennenden, von wechselnden Feuchtigkeitszuständen geprägten Schwammes empfindet. Die Zeit in einem solchen Schwamm verläuft gleichförmig, ein Tag ähnelt dem anderen, gleich, für welche Verwicklungen der Zufall sorgt.
Der Beginn eines Tages fühlte sich manchmal an, als hätte ich mich von den Fingern einer riesigen Hand zu befreien, die sich um meinen Körper geschlossen hat. Der nächtliche Rausch war ein Aufenthalt in einer von Stimmen und deren Echos durchdrungenen Zelle gewesen; der Morgen danach konnte sich dagegen manchmal – in Verbindung mit anderen Drogen – in einem geräuschlosen Vakuum abspielen, das, als ich es noch nicht kannte, mein Herz vor Angst rasen machte. Ich versuchte es mit Druckausgleich wie unter Wasser – zwecklos. Ich schrie, schlug mit der Faust auf den Tisch und versuchte dabei einen Spagat: einerseits so laut wie möglich zu sein, um etwas zu hören, und wenn es nur der Flügelschlag eines Geräuschs war; andererseits so wenig durchgeknallt wie möglich zu wirken, falls ich nicht allein war.
Diesmal handelte es sich um das andere Extrem: Seit ich die Augen geöffnet hatte, fand ich mich eingeschweißt in eine dumpfe Lärmhülle. Ein Brummen, das nichts als das Brummen meines Schädels war, sich jedoch wie ein Brummen aller Dinge anfühlte, die sich um mich herum befanden. Ein Brummen der
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