Das fuenfunddreißigste Jahr
Strichen wegzuwischen in der Lage ist. Dennoch hat sie auch etwas Sehniges, Zähes, das sie – gleichsam im letzten Augenblick – vor den Zugriffen der anderen schützt.
Woher kommt solch ein Kind? Im Dorf kursierten die wildesten Gerüchte. Hatte meine Großmutter einen Fehltritt begangen in jenen langen Nächten, in denen mein Großvater – erschöpft vom Bäumefällen und -schleifen – es vorzog, im Wald zu übernachten? Oder hatte meine Großmutter ihr eigenes Kind verloren und meine Mutter an Kindes statt adoptiert? Möglichkeiten, über die meine Mutter selbst lange grübelte, wenn sie Jahre, ja Jahrzehnte später an ihrer Herkunft und den Umständen ihres Heranwachsens verzweifelte.
Soweit ich mich erinnern kann, hat meine Mutter ihre Eltern in meiner Gegenwart niemals Papa oder Mama genannt, oder auch nur Vater oder Mutter . Sie nannte sie immer nur Oma und Opa , ganz so, als gehörten sie eher zu meinem Leben als zu ihrem. Sie brachte mich zu Beginn der Sommerferien also nicht zu ihren Eltern, sondern zu meinen Großeltern, und holte mich nach einem Monat wieder von dort ab. Vielleicht gelang es ihr dadurch ja, eine Distanz zwischen sich und ihre Eltern zu legen, die noch größer war als diejenige, die sie ohnehin schon als so groß empfand, dass sie über ihr Elternhaus wie über eine Kinderkrankheit sprach. Etwas, dem man sich als Kind nicht entziehen konnte, und von dem man froh war, wenn man es hinter sich gebracht hatte.
Dass mein Großvater der Existenz meiner Mutter keine allzu große Bedeutung beimaß, ja dass er – etwa an ihrem Geburtstag – regelrecht darauf vergaß, dass er eine Tochter hatte, musste nicht einmal etwas mit ihr zu tun haben. Frauen spielten in seinem Leben keine Rolle. Ihre Körper, ihre Bedürfnisse oder gar ihre Rechte waren etwas, worüber er kein Wort verlor, ja wofür er wahrscheinlich nicht einmal Worte hatte.
Einmal hatte ich mitbekommen – ich weiß nicht mehr, in welchem Zusammenhang –, wie er die Vagina seltsamerweise als »Fuffi« bezeichnete, etwas, das mir bis dahin nur als salopper Ausdruck für einen Fünfzig-Schilling-Schein bekannt war. Außerdem nannte er meine Großmutter hin und wieder »Weibi« und kniff sie in die Wange. Das Lächeln, das er dazu aufsetzte, war keines mehr, konnte keines mehr sein, da der Suff dafür sorgte, dass ihm seine Gesichtszüge entglitten. Wo er gewinnend aussehen wollte, wirkte er verschlagen, wo er es einmal schaffte, sich zu konzentrieren, konnte man es für einen die Welt mit leeren Blicken abtastenden Stumpfsinn halten. Der Unterschied zwischen beiden Zuständen wog bei ihm ohnehin kaum schwerer als das Gewicht einer Feder.
Die mit dem Ausrufezeichen ihrer entblößten Brüste versehene Hohnrede war nicht das einzige Mittel, zu dem meine Mutter griff, um sich gegen ihre Umgebung aufzulehnen. Sie kleidete sich als Erste im Dorf in der Mode der Hippiebewegung, die in den sechziger Jahren von Amerika nach Europa herüberschwappte. Sie trank in der Öffentlichkeit und befand sich dabei hin und wieder in den Armen irgendwelcher hübschen Jungen, die für sie regelmäßig den Weg von der mit dem Auto etwa vierzig Minuten entfernten Stadt auf sich nahmen. Von außen betrachtet bot sie als Siebzehnjährige genau jenes Bild einer Jugendlichen, das sie als bald Sechzigjährige nun an den Pranger stellt. Wenn ich sie daran erinnere – es kommt immer wieder mal vor, dass ich das muss –, wird sie still, senkt den Blick, hat dann aber die Größe, sich nicht auf ihren Standpunkt zu versteifen, sondern mir recht zu geben.
»Es ist nun mal, wie es ist. Wir können die Zeit nicht zurückdrehen. Heute weiß ich vieles besser. Weiß, was ich anders, was ich besser machen würde. Aber was nützt mir das? Was nützt es, dass man irgendwann Bescheid weiß über sich. Dass man weiß, warum es so gelaufen ist und nicht anders. Wenn man es ja doch nicht mehr ändern kann. Heute gehe ich auf die sechzig zu. Da ist das doch ohne jede Bedeutung. Man reibt sich die Augen und kann es nicht fassen, wie schnell die Zeit vergangen ist. Das ist alles.«
Nicht selten tritt einem das Alter auf diese Weise gegenüber: als vertrockneter Strauß Lebensweisheiten.
»Du hast leicht reden. Du bist noch jung. Wie ich so jung war, hab ich über vieles auch noch anders gedacht. Werd mal so alt wie ich. Dann schauen wir weiter. Und hör auf, an deiner Mutter herumzunörgeln. Wegen der paar Zigaretten. Und weil ich mir ab und zu einen kleinen Prosecco
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