Das fuenfunddreißigste Jahr
gönne. Wen kümmert’s, ob ich siebzig werde oder achtzig? Mich jedenfalls nicht. Du müsstest das doch am besten verstehen. Es ist gar nicht so lange her, da hast du deine Sorgen regelrecht im Alkohol ertränkt. Meine Güte! Wenn ich daran denke. Schrecklich. Dabei hattest du doch gar keine Sorgen. Hattest noch alles vor dir, und hast es immer noch. Weißt du noch? Die Zeit mit Toni? Oder hast du das schon verdrängt?«
Im Gegenteil.
Ich erinnere mich daran, als wäre es gestern gewesen.
Derjenige, welcher sich in ein großes Gedränge begibt, muss sich durchwinden, die Ellenbogen an sich ziehen, zurück oder vorwärts gehen, ja selbst vom geraden Weg abweichen, so wie es die Umstände erfordern.
Montaigne, Essais III , ix
Der Morgen danach
Ich blinzelte. Das Tageslicht hatte etwas von einem Rotweinfleck: Es würde nicht so schnell weggehen, also drehte ich mich um, das Gesicht zur Wand, und versuchte, wieder einzuschlafen, doch es gelang mir nicht. Ich ergab mich der Helligkeit. Vielleicht war es ja schon viel später, als ich dachte.
Der Frage nach der Zeit folgte die ungleich spannendere Frage nach dem Ort. Lag ich in meinem Bett, oder lag ich im Bett einer Frau, die ich letzte Nacht kennengelernt hatte? Ich öffnete zaghaft die Augen und befühlte mit meinen Händen die Unterlage, auf der ich lag. Es handelte sich nicht um ein Bett, sondern um eine Couch. Außerdem hatte ich es nicht mehr geschafft, mich auszuziehen, sondern hatte Jeans und Socken anbehalten, als ich mich hingelegt hatte. (Wahrscheinlich war ich nicht mehr nüchtern genug gewesen, um mich auszuziehen.) Ich blickte mich um. An den Wänden hingen drei großformatige Ölbilder, die Variationen desselben Motivs darstellten: Rote, der menschlichen Physiognomie nachempfundene Körper – mal fehlten die Beine, mal klaffte in einem Brustkorb ein riesiges Loch – versuchten vergeblich, die Entfernung zu überwinden, die zwischen ihnen lag. Wie so oft am Ausgang einer Nacht war ich also auf der ausziehbaren Couch meines Freundes Toni gelandet. Wie war ich dort hingekommen? Es war nicht unwahrscheinlich, dass ich bereits im Lokal eingeschlafen war. Obwohl Toni wesentlich mehr getrunken hatte als ich, hatte er noch so viel Kraft und Klarheit besessen, mich nachhause zu befördern.
Was das Trinken betraf, war ich gewissermaßen ein Lehrling, wo Toni schon ein Meister war. Er beherrschte es wie kein anderer, seinen alkoholgetränkten Körper wie eine nüchterne Kulisse vor sich herzuschieben. Was für mich noch ein Exzess war, war für ihn normal. Er konnte in kürzester Zeit sechs halbe Liter Bier trinken, ohne dass man seinem Gang, seiner Stimme, seinem Blick etwas anmerkte. Ich konnte bei einer solchen Menge nicht mehr gerade stehen. Wobei es durchaus Tage gab, an denen er keinen Alkohol trank, vermutlich, um sich zu beweisen, dass er es immer noch aus Lust tat und nicht aus Zwang.
Ich machte mich mit dem Gedanken vertraut, aufzustehen, blieb aber noch auf der Couch liegen. Mir war schlecht und ich spielte einen Augenblick mit dem Gedanken, mir Erleichterung zu verschaffen und mich zu übergeben. Der Gedanke an Tonis Badezimmer, an den Zustand seiner Toilette, ließ mich jedoch davon absehen. Es war besser, sich so lange zusammenzureißen, wie es ging, als sich in halbnüchternem Zustand über Tonis Kloschüssel zu beugen.
Tonis Wohnung war eine klassische Junggesellenbude: die erweiterte, dafür verkommene Ausgabe eines Kinderzimmers. Statt Blumen in Vasen gab es volle Aschenbecher, statt Schuhregal und Schirmständer in der Diele eine Dartscheibe sowie Tennisschläger und Skischuhe, die nie benutzt wurden. Statt nach Wildblütenduft roch es im Klo nach Urin, der am Boden der Kloschüssel eine Kruste gebildet hatte, die mit der Bürste nicht mehr zu entfernen war. Im Eisfach des Kühlschranks stapelten sich Fertiggerichte, deren Verpackungen einfach auf der Anrichte liegen blieben, wenn der Mülleimer voll war. Die Bettwäsche war voller Sperma- und Kaffeeflecken. Sie wurde selten gewechselt, was nicht zuletzt daran lag, dass keine Frau sich oft genug darin aufhielt, dass sie sich darüber hätte aufregen können. Toni konnte auch problemlos in seinen Kleidern am mit Staubmäusen übersäten Boden schlafen oder nach einem Rave unter freiem Himmel auf einer nachtfeuchten Wiese liegen bleiben. Dennoch trug er immer frisch gewaschene und gebügelte Hosen und Hemden, da er alle zwei Wochen einen Sack Schmutzwäsche bei seiner Mutter
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