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Das fuenfunddreißigste Jahr

Titel: Das fuenfunddreißigste Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Truschner
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Tunnelexistenz, sodass unser frisch gezapftes, mit Schaumkronen versehenes Bier auf dem Tisch an Bedeutung verlor und unsere Schweigsamkeit plötzlich weniger leer als gehaltvoll erschien. Die Realität erstrahlte kurz im Glanz des Idealen: Wir hingen nicht nur rum, nein, wir verweigerten uns dem allgemeinen Streben nach Sicherheit und Erfolg und lachten über die Arbeit, wie sonst nur das reine Glück es vermochte. Ein Zustand, der natürlich nicht lange anhält: Der Mensch arbeitet dennoch. Nicht nur aus Gründen des Überlebens, sondern weil er dem Glück misstraut. Er hat gelernt, dass es nicht von Dauer ist. Wenn das Glück schließlich fort und er wieder allein ist, bleibt ihm immer noch das Erarbeitete.
    Unter dem Deckmantel des Bierfrühstücks konnten wir uns den Botschaften zuwenden, die uns das Leben dezent, aber unzweideutig zukommen ließ und denen wir uns sonst aus Verbohrtheit verweigerten – wobei der eine darauf aufpasste, dass der andere nicht vom Glauben an die Scheiße-von-allem abfiel. In einem jugendlichen Kontext hatte dieser Glaube etwas beinah Natürliches. Mit Mitte zwanzig und in Verbindung mit hemmungslosem Alkoholkonsum erschien er zumindest als eine gefährliche Verlängerung der Jugend. »Willst du deine Zukunft aufs Spiel setzen?«, fragte meine Mutter. »Wovon willst du leben? Ohne Abschluss? Glaub ja nicht, dass ich das « – sie blickte sich angeekelt im Zimmer um – »finanziere.«
    Die Zeit unter den Kastanien brachte – gleichgültig, ob die Sonne schien oder nicht – Licht in mein Dunkel. Denn als Folge des Trinkens erlischt das Licht und mit ihm der Himmel, das Gras und die Blumen, die Bäche und Seen, alle Farben an Wänden und Kleidungsstücken. Der Tag wird stumpf, nur die Nacht lallt ihre Lieder. Vom Grunde der Sinnlichkeit steigen natürlich weiterhin Luftblasen zum benebelten Bewusstsein hoch, berühren die Haut, das Gehör, die Pupillen. Alles ist immer noch da, man geht spazieren und spürt die Pollen, die der Wind einem ins Gesicht treibt. Aber es ist nur noch ein Koordinatensystem, in dem man sich – zwanghaft auf wenige Punkte fixiert – bewegt. Im »Klosterbräu« gehörten wir selbst wieder zu den Farben, die dem Cursor eines Tages zur Verfügung standen.
    Unverständlich und doch logisch war, dass ich mich schon bald nach dem Verlassen des Biergartens wieder nach Düsternis, Husten, Gebrüll zu sehnen begann. Der Wille zum Unglück verleiht selbst den Antriebslosen noch die Verve einer Richtung. Wenn die meisten jede Ambition fahrenlassen, treibt andere der Ehrgeiz um, noch im Suff zu glänzen. Gleichgültig, ob es sich um einen Philosophen handelt, der Schopenhauer beschwört, wo doch nur sein Hund erscheint. Oder um einen Disco-Helden, der – wenn er sich auf dem Dancefloor bewegt – für Michael Jackson hält, was längst nach Francis Bacon aussieht.
    Der Rest des Tages war nichts als ein Hinübergleiten in die Nacht. Am Abend saßen wir auf Tonis schwarzem Ledersofa und sahen uns ein Fußballspiel im Fernsehen an. Dazu Pizza, Chips. Tonis Position auf der Couch befand sich in jenem Moment vollkommen im Einklang mit der Position, die er im Leben einnahm. Ich konnte seit jeher nur schlecht stillsitzen, stand ab und zu auf, mühte mich an seinen zehn Kilo schweren Hanteln ab. Die Tatsache, dass ich meinen Körper trainierte, gab mir das Gefühl, dass ich mich noch um mich sorgte, während Toni zufrieden an seinen redlich erworbenen Speckringen zupfte.
    »Gehen wir in die ›Weinstube‹?« Was sich wie eine Frage anhörte, war im Grunde eine Feststellung.
    Montagabend ist eine unspektakuläre Zeit, um fortzugehen, da die meisten Nachtschwärmer ihre Energie und ihr Geld bereits am Wochenende unter die Leute gebracht haben. Auch diejenigen, die den Samstagabend herbeisehnen, um unter dem Deckmantel des Suffs ihre Aggressionen auszuleben, haben sie entweder ausgelebt oder wurden rechtzeitig daran gehindert.
    Während wir am Wochenende gerne auf Partys und in Clubs gingen, verbrachten wir die Abende unter der Woche in der »Weinstube«, einem Lokal, dessen Ambiente auf den ersten Blick so schlicht war wie sein Name, und dessen besonderer Reiz darin bestand, dass in ihm Menschen verschiedener Schichten und Altersgruppen aufeinandertrafen, was in der Kleinstadt, in der ich lebte, ungewöhnlich war, da jeder zumeist in seinem ihm zukommenden Milieu verblieb. Ein Umstand, der etwas von einem Gewohnheitsrecht hatte und dem sich sogar jene beugten, die ihn für

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