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Das fuenfunddreißigste Jahr

Titel: Das fuenfunddreißigste Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Truschner
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allmählich in ein Stechen, das erträglich war, solange ich mich nicht bewegte. Bückte ich mich jedoch oder drehte ich den Kopf, verspürte ich zuerst einen Stich. Dann platzte etwas auf und verteilte sich zwischen Stirn und Hinterkopf, wo es sich schließlich auflöste, um wiederaufzutauchen, wenn ich eine schnelle Bewegung machte.
    Ich trocknete mich ab, föhnte mir jedoch nicht die Haare, sodass mir auf dem Weg in die Küche vereinzelte Wassertropfen das Gesicht und den Rücken hinunterrannen. Als ich in die Küche kam, erblickte ich Toni – und in gewissem Sinne mich selbst: Toni hatte nichts an außer das Handtuch, das er sich um die Hüften geschlungen hatte. Seine Haare waren feucht, vor ihm auf dem Tisch stand eine halbleere Flasche Cola. Ich setzte mich zu ihm, trank aus der Flasche und stellte mit einem Blick auf die Küchenuhr zu meiner Überraschung fest, dass es noch nicht einmal elf Uhr war.
    Toni wünschte mir einen guten Morgen und fragte mich, wie es mir ging – eine Frage, die sich im Grunde erübrigte, da es mir am Morgen danach so gut wie immer schlecht ging. Ich antwortete also wahrheitsgemäß: beschissen. Toni lachte und stand auf, um Kaffee zu machen.
    Mehr an Unterhaltung gab es nicht – weder an diesem Morgen noch sonst irgendwann. Zwischen uns herrschte jenes Schweigen, in dem Trinker, die nicht zum Geschwätz neigen, sich am wohlsten fühlen. Es ist unabdingbar, um es miteinander auszuhalten: Jedes überflüssige Wort, jede überzogene Geste wirkt ernüchternd, da sie daran erinnert, dass man sich im Grunde nichts zu sagen hat. Man kann ruhig über die unglückliche Kindheit sprechen oder die Tatsache, dass man gerade seinen Job verloren hat – wenn es sich nur so anhört wie »ich hab heut noch keinen Kaffee getrunken«. Alles andere – ob Skepsis oder Emphase – mündet zumeist in eine Auseinandersetzung. Hatte Toni eine große Liebe erlebt? War er schon einmal in Lebensgefahr gewesen? Ging ihm überhaupt etwas wirklich nahe? Ich wusste es nicht, würde es vielleicht nie erfahren.
    Wenn man säuft, stellt der Vormittag zumeist eine Art Gefechtsruhe zwischen der vergangenen und der kommenden Nacht dar. Es gibt Trinker, die frühmorgens pünktlich wie aus dem Ei gepellt zum ersten Meeting erscheinen (das sie jedoch in Wahrheit nur überstehen, weil sie wissen, dass in ihrem Büro der präparierte Aktenordner mit der Flasche Cognac auf sie wartet). Bei Toni und mir lag der Fall anders. Wir hatten weder eine Familie, für die wir sorgen mussten, noch ein Büro, in dem wir pünktlich zu erscheinen hatten. Toni hatte zuletzt in einer Firma gearbeitet, die Mikroelektronik für den Maschinenbau produzierte und vertrieb. Als die Firma Stellen abbaute, war er unter denen, die gehen mussten. Seither lebte er von Arbeitslosengeld – nicht zuletzt, weil er Anstellungen zu verhindern wusste. Ich hätte längst meine Diplomarbeit fertigstellen müssen. Stattdessen saßen wir nun in seiner Küche, in der es nach Kaffee roch, der im Glasbehälter der Filtermaschine anbrannte. Da es keine Butter gab, schmierten wir uns die Brombeermarmelade von Tonis Mutter auf unser trockenes Weißbrot. Ich schlug ein paar Ameisen tot, und wir sahen ihren Artgenossen dabei zu, wie sie die zerquetschten Körper mit vereinten Kräften von der Tischplatte lösten und abtransportierten. Ihr Vorgehen erschien auf den ersten Blick chaotisch. In Wahrheit handelte es sich bei ihrem Gewusel um eine gezielt auf Überwältigung durch Masse bauende Operation.
    »In der Natur gibt es keine Verschwendung«, sagte ich – eine Behauptung, die Toni nicht weiter interessierte.
    Obwohl die Sonne schien, war der Morgen grau gewesen. Wir lagerten auf unseren Stühlen wie x-beliebige Sachen, die am Fundamt auf ihre rechtmäßigen Besitzer warteten. Ein Lächeln haftete plötzlich auf Tonis Gesicht, als wäre es dort von jemandem angebracht worden.
    »Alles in Ordnung?«, fragte ich. Toni antwortete nicht. Als er mit seiner Kaffeetasse auf die leeren Bierflaschen am Boden deutete, wusste ich, was ihm als Fortsetzung des Frühstücks vorschwebte.
    Wenig später saßen wir unter den Kastanienbäumen des »Klosterbräus«. Die Bäume waren noch nicht von jenen Schädlingen befallen, die sie weit vor der Zeit welken ließen, sodass der Beginn des Herbstes in den Sommer verlegt schien. Lichttropfen fanden die Lücken im Blätterdach und fielen auf Körper, Tische und die geschliffenen, weißgrauen Kiesel am Boden. Sie rührten an unserer

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