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Das fuenfunddreißigste Jahr

Titel: Das fuenfunddreißigste Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Truschner
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Couch, der Stereoanlage, des Teppichbodens, der Fenster. Alle diese Objekte schienen durch unsichtbar schwingende Fäden miteinander verbunden zu sein. Ich hatte gehofft, dass die Übelkeit und das Brummen nach dem Aufstehen allmählich verschwinden würden, aber meine Hoffnung hatte sich nur zur Hälfte erfüllt. Schlecht war mir nicht mehr, das Brummen hielt jedoch unvermindert an.
    Ich begab mich schwankend auf die Suche nach dem Badezimmer. (Auch wenn ich in meiner Wohnung erwachte, musste ich manchmal das Badezimmer suchen. Ich hatte das Denken vergangene Nacht eingestellt, da konnte es passieren, dass es am Morgen nur stotternd wieder in Gang kam.) Aber auch das Aufdrehen des Wasserhahns und das Eintauchen der Hände und des Gesichts in kaltes Wasser bereiteten dem Brummen kein Ende. Wie auch? Schließlich brummte es in mir selbst. All jene Teile meines Körpers, die ich entweder über die Maßen strapazierte – Leber, Lunge, Blase, Herz – oder aber sträflich vernachlässigte – Haare, Sehnen, Muskeln, Nägel, Zähne –, hatten sich zu einem Chor zusammengetan. Gemessen am Schweigen, das ihnen sonst zukam, veranstalteten sie einen Höllenlärm.
    Fremd kam mir auch mein Gesicht im Badezimmerspiegel vor, ein wie von Fettfingern verwischtes Porträt. Fremd war an ihm vor allem die Gleichgültigkeit, mit der es mir entgegenglotzte. Sie war so groß geworden, dass es inzwischen nicht nur den anderen, sondern auch mir auffiel. (Wobei ich auf diese Erkenntnis wiederum nicht anders reagierte als mit Gleichgültigkeit.) Das Bild, das ich im Spiegel abgab, war weniger dem Alkohol als dieser Gleichgültigkeit geschuldet, mit der ich an alles heranging. Diese Art, mit mir Umgang zu haben, musste jene befremden, die mich gut kannten, da ich mir und meinen Angelegenheiten immer besondere Aufmerksamkeit zuteilwerden ließ. Meine Haare, meine Kleidung, mein Gang: Wenn ich unterwegs war, suchte ich meine Umgebung immer nach spiegelnden Oberflächen ab, um mich meiner Identität zu vergewissern. Wenn mich etwas störte – etwa der Sitz meiner Frisur –, musste es sofort korrigiert werden. Neuerdings machte es mir jedoch nichts mehr aus, ob meine Haare ungewaschen, meine Nägel abgebissen und meine Jeans dreckig waren – ein Umstand, den meine Mutter beängstigend fand, da eine gepflegte Erscheinung unabdingbar für einen Menschen war, der sich zum Ziel gesetzt hatte, etwas darzustellen. Wobei es ihrer Meinung nach nicht genügte, etwas für sich selbst zu erreichen. »Da kannst du ja gleich Bauer werden.« Das Erreichte musste bei anderen Respekt und Bewunderung hervorrufen, bestenfalls mit gewissen Privilegien verbunden sein, die einen aus der Masse – ein Wort, bei dem sie unwillkürlich den Mund verzog – herausragen ließen.
    »Tob dich aus, wenn du’s brauchst. Du hast dir zwar schon mit fünfzehn die Jeans zerschnitten, aber bitte«, sagte sie lakonisch. »Wir wissen ja, dass die Pubertät bei Männern gelegentlich etwas länger dauert.«
    Ich maß den Worten meiner Mutter keine große Bedeutung bei. Ich brachte sie auch weniger mit mir als mit den Erfahrungen in Verbindung, die sie allgemein mit Männern gemacht hatte. Der Tenor dieser Erfahrungen lautete, dass es Männern vor allem um zwei Dinge ging: um ihren Schwanz und um ihre Arbeit. Hatte man das erst einmal durchschaut, konnte man als Frau das, was Männer einem weismachen wollten, nicht mehr wirklich ernst nehmen. Kannte man einen oder zwei, kannte man sie im Grunde alle. In der Weise, in der meine Mutter von Männern sprach, handelte es sich bei diesen weniger um eine Gruppe von Individuen als um eine Gattung. Indem ich auch ein Mann war – ich hatte zwar noch keine Arbeit, aber immerhin einen Schwanz –, konnte ich davon ausgehen, dass vieles von dem, was ich von mir gab oder womit ich mich beschäftigte, bei meiner Mutter von vornherein nur ein Lächeln hervorrief. Ich verdankte es der Tatsache, dass ich ihr Sohn war, dass dieses Lächeln milde ausfiel.
    Ich stellte mich unter die Dusche. In der Hoffnung, mit einem Schlag hellwach zu werden, drehte ich nur das kalte Wasser auf. Als die ersten Wasserstrahlen mein Gesicht trafen, blieb mir kurz die Luft weg. Mein Kopf fühlte sich an, als wäre ich zu rasch aufgestanden, nachdem ich mich zuvor lange in der Hocke befunden hatte. Ich atmete in kurzer, schneller Abfolge aus und ein. Die Kälte machte mich munter, meine Bewegungen wurden schneller, das Dröhnen in meinem Kopf verwandelte sich

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