Das fuenfunddreißigste Jahr
als handelte es sich weniger um Kommunikation als um ein kannibalisches Ritual. Das Plärrende, das auf den Tisch Hauende, das vor dem Urinal Schwankende und Danebenpissende, das mit dem Trinken einhergeht, geriet in der Weinstube selten außer Kontrolle. Der Alkohol fungierte eher als Sanft-, denn als Scharfmacher.
Toni stand unterdessen immer noch an der Theke, unterhielt sich jedoch nicht mehr mit dem Wirt, sondern mit zwei anderen Männern, die links neben ihm standen. Er stand mit dem Rücken zur Theke, stützte sich mit den Ellbogen an ihr ab und hielt sein Bier in der Hand. Er hatte feines dunkelbraunes Haar. In seinen Mundwinkeln nistete ein spöttisches Lächeln, das, wenn seine schmalen Lippen sich dazu formten, einen zynischen Anstrich bekam. Auf seinem langen Hals ruhte ein ovaler, an der Schädeldecke abgeflachter Kopf.
Ab und zu sah er zu den Männern hinüber, nickte, sonderte eine knappe Bemerkung ab und schaute sich dabei im Raum um, sodass sich unsere Blicke kreuzten. Ich bemerkte, wie die Männer näher an Toni heranrückten und sich ihre Mienen gleichzeitig ein wenig verfinsterten. Vielleicht fühlten sie sich von der Halbherzigkeit herausgefordert, in der Toni sich offensichtlich mit ihnen unterhielt. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass eine Unterhaltung, in die er verwickelt war, einen solchen Verlauf genommen hätte. Toni lernte gern und leicht neue Leute kennen, er wurde ihrer aber auch so schnell überdrüssig, wie er mit ihnen in Verbindung gekommen war: nahezu schlagartig. Anstatt sich zu verabschieden, blieb er neben ihnen stehen, schenkte ihnen fortan nicht mehr Beachtung als notwendig. Nicht wenige fühlten sich davon düpiert, geradezu persönlich angegriffen. Toni ließ sich davon jedoch nicht aus der Ruhe bringen, ja hatte insgeheim wahrscheinlich seinen Spaß daran. Menschen, die mit ihm diskutierten und ihn kraft ihrer Argumente zu überzeugen versuchten, konnten in Wut geraten ob seiner Unzugänglichkeit für jede Form von Vernunft, die nicht die seine war. Vor allem für Gemüter, die für eine klare Scheidung zwischen schwarz und weiß, richtig und falsch eintraten, stellte er eine Provokation dar, da sein Standpunkt der eines klaren »vielleicht, vielleicht auch nicht, was soll’s« war. So hatte er in gewissem Sinne immer recht, ohne sich überhaupt darum zu bemühen, recht zu haben – eine Haltung, die für einige, die ins Gasthaus oder zum Heurigen gehen, eine Unzumutbarkeit darstellt.
Vielleicht maß ich dem, was ich sah, eine zu große Bedeutung bei, vielleicht ging es um ein Thema, das den Männern am Herzen lag, und der Ernst und die Nachdrücklichkeit, die sie in Gestik und Mimik an den Tag legten, waren diesem Umstand zu verdanken, und nicht Tonis Reaktion darauf. Wie auch immer: Ich trank mein Bier aus – es war bereits mein drittes –, ging zu Toni hinüber und erklärte ihm, dass mich das Lokal anödete, da wir in letzter Zeit einfach zu oft hier verkehrten. Was zum Teil sogar stimmte. Nachdem wir den Nachmittag in der Idylle des »Klosterbräus« verbracht hatten, stand mir der Sinn nicht mehr nach Gemütlichkeit, sondern nach Beschleunigung. Wenn ich an jenem Abend überhaupt noch einmal auf Touren kommen wollte, dann brauchte ich Hektik, Lärm und eine flirrende Unübersichtlichkeit – sonst wäre es wohl das Beste für mich gewesen, gleich ins Bett zu gehen. Der Umstand, dass im »Icon« – einem angesagten Club – eine »Monday Party« gefeiert wurde, nahm mir die Entscheidung ab.
Die Nacht kündigte das Ende des Sommers an, es war zu kühl, um zu vorgerückter Stunde noch draußen zu sitzen und dem Mond zuzuprosten. Der Weg zum »Icon« führte uns durch die Altstadt. Manche Gassen im mittelalterlichen Kern waren so schmal, dass man das Gefühl hatte, als schliche man an Wänden entlang. Als wir nach einer Weile um eine Ecke bogen, befanden wir uns plötzlich im offenen Raum der Renaissance, in der das Denken ebenso weit geworden war wie die Plätze und Straßen. Ein menschliches, nicht himmlisches Maß war das Fundament dieser Denk- und Bauverhältnisse. Das Aufbäumen der Kirche im Zeitalter des Absolutismus manifestierte sich in der Wucht des Barock, das sich jedoch – anders als die Gotik – nicht der Demut und dem Verzicht, sondern der Fleischesfülle verschrieben hatte. Der Dom, an dem wir vorübergingen, hatte dementsprechend etwas von einer Frau an sich, die auf dem Kanapee des Domplatzes lag und deren üppige Formen von einem
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