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Das fuenfunddreißigste Jahr

Titel: Das fuenfunddreißigste Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Truschner
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absurd hielten. Heute kommt mir das Ganze wie eine Maschine vor, die von Vorurteilen und Fragen von der Art gespeist wurde, wer zu welchem Anlass was trug, wer welches Auto fuhr, wer mit wem wo zu Abend gegessen hatte, wer welcher Partei seine Stimme gab – und was das über das Milieu aussagte, in dem derjenige verkehrte. Fühlte man sich diesem Milieu nicht zugehörig, war es naturgemäß nichts Gutes.
    Ein Abend in der »Weinstube« kam unter solchen Bedingungen beinah einem Ausnahmezustand gleich: tun können, was und mit wem man will, ohne dass der Nachbar es sieht, nicht nur der reale, sondern auch der imaginäre – diese Miniaturausgabe eines Blockwarts, die einen selbst bewohnt.
    Als Toni und ich an diesem Abend das Lokal betraten, war es bereits voll. Wir mussten jedoch nicht befürchten, lange herumzustehen, da die Gäste gerne zusammenrückten. Die »Weinstube« hatte etwas von einer Bühne – mit dem Unterschied, dass man selbst entscheiden konnte, ob man zu den Schauspielern oder zum Publikum gehören wollte. Wir bestellten unser Bier. Während Toni, der den Wirt gut kannte, an der Theke stehen blieb, um ein paar Worte mit ihm zu wechseln (oder den Rest des Abends dort zu verbringen), suchte ich mir einen Platz am Rande des Gewühls. Da ich immer noch leichte Kopfschmerzen hatte und mir nicht nach Sprechen zumute war, hatte ich mich fürs Erste dazu entschlossen, ein Teil des Publikums zu sein und den anderen dabei zuzusehen, wie sie sich selbst darstellten und einander dabei unweigerlich nahe, hin und wieder auch in die Quere kamen. Ich trank mein Bier und ließ meinen Blick über die Anwesenden schweifen. Manch ein Gast sah es nicht gerne, dass man sich von den anderen abgrenzte, ich hatte jedoch an diesem Abend das Glück, dass sich keiner an meiner Zurückhaltung stieß. Zum Schauen gab es genug, ich ergötzte mich dabei vor allem an jenen Paaren, die der Zufall zusammenbrachte und denen man auf offener Straße kaum begegnet wäre. Ein Mann um die vierzig, der einen Trachtenanzug trug und offensichtlich Nichtraucher war, diskutierte mit einem Jugendlichen über Politik, der seine Haare zu einem Zopf gebunden hatte und sich eine Zigarette nach der anderen drehte. Eine zartgliedrige Geschäftsfrau in einem beigen Leinenkostüm, die sich dem Hochdeutschen verpflichtet fühlte und ihr Weinglas mit den Fingern mehr umschmeichelte, als dass sie daraus trank, geriet an einen kahlköpfigen, braungebrannten Naturburschen, der sein makelloses Gebiss zur Schau stellte und sie in wildem Alpenvorländisch dazu aufforderte, mit ihm zu tanzen. Ein Tischler und ein Hochschulprofessor lagen einander in den Armen und sangen »Trink ma no a Flascherl Wein, holladero«, dass ein Speichelsprühregen über die unmittelbar vor ihnen Sitzenden niederging.
    Die hölzernen Wände der Weinstube waren in demselben Kirschrot gehalten wie die Tische, Stühle und Bänke, die in die Wand verdübelt waren. Kleine Lampen mit rot-weiß-karierten Schirmen hingen von den Wänden herab und spendeten – unterstützt von den roten Kerzen auf den Tischen – ein Vertraulichkeiten jeder Art begünstigendes Licht. Schon am frühen Abend, wenn erst wenige Gäste sich in der Stube mit gedämpfter Stimme unterhielten, spürte man in der Luft jenes kindliche Zittern wie vor dem Geschenkeauspacken, von dem man spätestens dann erfasst war, wenn man einander über die Tische hinweg anbrüllen musste, um sich zu verstehen. Da war aus dem Zittern ein Dröhnen geworden und aus der Anspannung eine Entladung von Gelächter, Trinksprüchen, Anzüglichkeiten, Lebensweisheiten und Handgreiflichkeiten.
    In einer Bar geht es immer ums Suchen und Gefundenwerden, um Bewegung – von Nervenzellen, Hormonen, Augäpfeln, Gliedmaßen, Worthülsen, Pegelständen. In der Stube, die jeden Abend bis auf den letzten Platz gefüllt war, konnte man einfach darauf warten, was passiert. Die einen blieben an ihren Tischen sitzen und waren mit denen zufrieden, die ihnen der Zufall zur Seite gab. Die anderen standen lieber und probierten im Laufe des Abends verschiedene Konstellationen aus, die sich einfach dadurch ergaben, dass man einen Fremden mit den Worten ansprach: »Schon wieder aufs Klo?« Je nach Antwort hatte man einen neuen Trinkgenossen oder nicht.
    Das Lokal barst förmlich vor Sätzen, in die Luft gezwirbelt wie Papierschlangen, und Berührungen, in denen das Unbekannte auf einmal das Nächste war. Dazu weit aufgerissene, den Schlund entblößende Münder,

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