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Das fuenfunddreißigste Jahr

Titel: Das fuenfunddreißigste Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Truschner
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wahrnehmen, können die Unschärfe des Blicks und die Benebelung des Urteilsvermögens bei einem selbst wahre Glücksgefühle verursachen: Eine langweilige Frau wird brennend interessant und man selbst kommt sich weniger peinlich als geradezu sensationell originell vor. (Dumm nur, dass man mit seiner Freude darüber meist allein dasteht.)
    Ich machte eine Runde durchs Lokal, wobei ich an dem durch Einzelpersonen oder Paare lose miteinander verbundenen Menschenknäuel nur schlingernd oder ruckweise vorbeikam und den einen oder anderen beiseite bitten oder schieben musste. Wie ich mich so durch die Menge zwängte, war ich ganz in meinem Element. Das Kopfweh war verschwunden und ich fühlte mich plötzlich ganz leicht. Ich nahm die Geräusche, Worte, Gerüche beim Vorüberstreifen in mich auf und passte mich sowohl den Ausbuchtungen als auch den Verengungen der Oberflächen problemlos an. Meine Bewegungen hatten etwas Geschmeidiges, meine Handlungen etwas in sich Rundes. Es war der Augenblick, in dem der Alkohol seine ideale Wirkung entfaltete und sich mit meinem Blut in einer Weise mischte, als könnte mein Körper nur in der Verbindung beider Elemente effizient, ja geradezu beglückend funktionieren. Alles arbeitete mir in diesem Zustand entgegen. Wenn es mir gelang, mich beim Trinken zurückzuhalten, hielt das Gefühl eine Weile vor, und der Abend wurde zu einer weiteren Strophe im Hohelied des Alkohols. (Von dem es jedoch auch einen Trauermarsch gab, denn erfahrungsgemäß ging es mit mir nach einem solchen Hochgefühl kontinuierlich, manchmal sogar beklemmend schnell bergab). Mit am schönsten daran: Eine muffige Kneipe, eine schicke Bar werden in so einer Stimmung kurz zum Ballsaal. Das Glitzern des mit Spucke vermischten Wodkas oder Whiskys im Glas: wie flüssige Colliers und Diademe. Milchig-trübe Blicke wie Tüll oder Taft. Das Herausgehobene einzelner Stimmen und Geräusche: Orchestermusik, die Räume und Menschen miteinander verwob. Zeit verging, ohne dass man hinterher genau wusste, wie, dann war der Spuk auch wieder vorüber und man konnte sagen: Es war eine rauschende Ballnacht.
    Auf meinem Weg achtete ich auf Zeichen und maß ihnen – wie jeder Mann – mal mehr, mal weniger Bedeutung bei, als ihnen zukam. Ein Dekolleté, das tief ausgeschnitten war; eine Frau, die mir beim Vorübergehen kurz in die Augen sah, um danach sofort zu Boden zu blicken; eine andere, die die Arme zur Musik bewegte, die Hände dabei zu losen Fäusten geballt; ein Hintern, der in absichtsvoller Zufälligkeit meine Hüfte streifte. Situationen, von denen sich nicht sagen ließ, ob sie nur Spielerei waren oder aber verkappte Angebote, die demjenigen offenstanden, der den hingeworfenen Ball auffing.
    Zu später Stunde kam man sich im »Icon« manchmal vor wie auf einer Versteigerung: Eine Frau nach der anderen zog an einem vorüber. Irgendwann griff man zu, oft, ohne jemand Bestimmten zu meinen. Das war ungewohnt, sogar hässlich, wenn man bis dahin nur das Ritual der Werbung kannte. Andererseits war es aber auch angenehm und erleichterte die Sache ungemein, da viele Frauen es nicht anders hielten: Sie dachten ebenfalls nur ans Bett. Sofern es sich vermeiden ließ, sollte es sich dabei nicht um einen x-Beliebigen handeln. War das nicht zu bewerkstelligen, gingen sie entweder allein nachhause oder betranken sich ordentlich, sodass der Alkohol ihnen am nächsten Morgen eine akzeptable Entschuldigung für den offensichtlichen Fehlgriff und das schale Gefühl lieferte, das ihnen davon nicht selten blieb und das auch mit einem starken Kaffee und einer heißen Dusche nicht sofort verschwand.
    Ein Paar saß auf der gegenüberliegenden Seite der in Form einer Ellipse in der Mitte des Raums plazierten Bar. Bei dem Mann handelte es sich um Toni, er hatte seinen Arm um eine Frau gelegt, von der ich nur Rücken und Hinterkopf sah. Sie hatte brünettes, lockiges Haar und war fast einen Kopf kleiner als er. Es versetzte mich wieder einmal in Erstaunen, wie schnell es bei ihm oft ging. Das Verblüffende dabei war, dass er so gut wie nie die Initiative ergriff. Frauen machten bei ihm oft den ersten Schritt – ein Verhalten, das sonst die Ausnahme bildete, mir zum Beispiel bis dahin nie passiert war. Frauen lächelten zurück, schauten einem in die Augen, forderten einen in einer Weise auf, die zugleich so unverfänglich und so eindeutig wie möglich war – aber sie sprachen einen nicht an. Bei Toni war das anders. Er wusste um seine Wirkung und

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