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Das fuenfunddreißigste Jahr

Titel: Das fuenfunddreißigste Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Truschner
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älter man wurde, desto eher erkannte man, dass die bedrohten und toten Kinder in den Geschichten dieser Welt herumgeisterten, um die lebenden zu disziplinieren. Ängste blieben, der Schauplatz der Angst wechselte jedoch ebenso wie die Akteure. Aus dem Wald wurden Straßenschluchten und Tiefgaragen, und der Wolf zeigte sich unverhüllt: Er wurde zum Menschen.
    Plötzlich nahm ich Wasserrauschen wahr. Die ganze Zeit über hatte ich nichts davon bemerkt. Ich erkannte, dass der Fluss das eigentliche Ziel meiner Wanderung war. Ich konnte ihn zwar nicht sehen, hörte ihn dafür umso deutlicher.
    Es schien, als hätte ich keine Kraft, mich wieder aufzuraffen. Erde und Gras waren mir als Unterlage geradeso recht wie eine Matratze oder ein Teppich. Ich war versucht, an Ort und Stelle einzuschlafen, als ich Stimmen hörte. Ich lauschte und öffnete die Augen. Die Stimmen wurden weder lauter noch leiser. Sie blieben ein Hintergrundgeräusch, das eher dem dunklen Rauschen meines Inneren entsprang als einem akustischen Phänomen.
    Der Alkohol lässt vergangene Stunden gefrieren und zurückgelegte Kilometer wie einen Spaziergang anmuten, während Minuten und Meter, ja Sekunden und Zentimeter sich unter seinem Einfluss in einen Brei verwandeln können, den in den Mund zu nehmen und hinunterzuschlucken quälend ist. Die Dinge, um die es geht – Liebe, Vertrauen, Anerkennung –, wurden mir darüber zu Schemen am Horizont, die angesichts der Beschränktheit dessen, womit ich meine Zeit vertat, unerreichbar waren. Sich bei zwei Promille eine Zigarette zu drehen und den Weg zum Klo zu finden, bevor man kotzte, und darüber hinaus zu gewährleisten, dass die Rechnungen beglichen wurden, die sich in meinem Postfach fanden, stellte einen solchen Gewaltakt dar, dass keine Energie mehr für anderes blieb.
    Der Boden war feucht, kalt. Es war, als würde ich auf dem Mond liegen und blickte auf die Erde unter mir. Um sie zu erreichen, würde ich eine Ewigkeit brauchen. Wie lange es allein dauerte, bis ich mich aufraffte! Mir das T-Shirt auszuziehen; den Gürtel aus der Schnalle zu lösen; mir die kurze Leinenhose von den Beinen zu streifen. Ich verhedderte mich mit den Zehen, fiel hin und robbte auf allen vieren am Boden herum.
    Als ich mich dem Ufer näherte, rappelte ich mich hoch. Die Kälte kroch mir unter die Haut (wahrscheinlicher war, dass ich schon die ganze Zeit fror, es jedoch aufgrund des Alkohols nicht gemerkt hatte). Kein Mondlicht, keine Lampe schien mir. Ich wusste nicht, wie tief der Fluss an dieser Stelle war. Ob ich, wenn ich hineinsprang, unterging oder auf einen Felsen prallte. Als ich schließlich Anlauf nahm und vom Boden abhob, kam es mir vor, als tauchte ich gleich in mich selbst hinein.
    Ich wurde sofort von der Strömung erfasst und vom Ufer weg in die Mitte des Flusses gezogen. Ich versuchte, irgendwie dagegenzuhalten, zum Ufer zurückzuschwimmen – zwecklos. In diesem Moment war ich nicht mehr als ein Ast, mit dem das Wasser spielte. Die Nüchternheit, die sich einstellte, war weniger meinem Willen als jenem Programm meines Körpers geschuldet, das da lautete: überleben um jeden Preis. Mit einem Schlag wurde ich mir wieder einmal der Sorglosigkeit bewusst, mit der ich mit meinem Leben umging. Allein das Rauschen hätte mir sagen müssen, dass das Wasser nicht etwa gemächlich vor sich hin floss. Das Wasser stand hoch, Teile entwurzelter Bäume und anderer gefährlicher Unrat schnellten an mir vorüber.
    Es dauerte nicht lange, da spürte ich einen Schlag in den Rippen, der mir für einen Moment die Luft raubte. Gerade hatte ich noch darum gekämpft, die Nase oben zu behalten. Nun ließ ich mich treiben und lieferte mich der Gunst oder aber Missgunst der natürlichen Kräfte aus. Ich ging unter – nicht anders, als ich als Kind untergegangen war, nachdem ich ins Wasser gefallen und mir den Kopf am Ruder angehauen hatte: eher aus Ohnmacht und Entsetzen als aufgrund der Handlungsunfähigkeit meines Denk- und Bewegungsapparates. Mit einem Unterschied: Als Kind musste mein Großvater mir nachspringen und mich retten. Das schaffte ich nun allein. Unfallopfer und andere, die dem Tod nahe kamen, erzählten vom Beruhigenden, Erlösenden des Sterbens, vom Licht, das sie magisch anzog. Ich hingegen wurde mit Bildern umspült, die mich allesamt dazu aufforderten, am Leben zu hängen, es zu wollen. Die Sonnenglut der Tomaten im Gemüsegarten meiner Großeltern; das Parfüm, das meine Freundin verwendete, als wir uns

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