Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das fuenfunddreißigste Jahr

Titel: Das fuenfunddreißigste Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Truschner
Vom Netzwerk:
konnte es sich leisten, gelassen zu bleiben, wo andere forsch oder gar plump zu Werke gingen oder glaubten, es tun zu müssen. Er bot Frauen eine nahezu ideale Fläche für ihre Projektionen. Wonach sie suchten, was immer sie umtrieb – hinter dieser Fläche würde es zu finden sein. Immer wieder ließ sich eine auf ihn ein, die davon überzeugt war, dass in ihm weit mehr steckte, als es den Anschein hatte. Zu Beginn einer Affäre versuchte er dem Bild, das sich eine Frau von ihm machte, einigermaßen gerecht zu werden. Jedoch weniger, weil er sich wirklich Mühe gab, sondern weil es schlicht verführerisch ist, sich in der Begeisterung eines anderen zu spiegeln. Man erliegt für kurze Zeit derselben Illusion, der sich der andere hingibt, und geht dadurch eine geradezu traumhafte Verbindung mit ihm ein, die dann zu Ende ist, wenn man die Augen aufschlägt und in der Wirklichkeit erwacht.
    Ich ging um die Theke herum und klopfte Toni mit der flachen Hand fest auf den Rücken, sodass er mit seinem Oberkörper nach vorne kippte, beinah auf die Frau hinauf. Er drehte sich um, die Frau neigte den Kopf zu mir herüber. Es war Sara, seine Schwester. Sie war siebzehn und ging noch zur Schule.
    Ich war überrascht. »Was macht sie denn hier?«
    Toni zuckte mit den Schultern.
    »Ich bin alt genug«, sagte Sara. Bevor ich etwas erwidern konnte, schob sie ein »Hallo erstmal« nach und drückte mir einen Kuss auf die Wange.
    Ich packte Toni an der rechten Schulter. »Stört dich die Vorstellung nicht, dass sie von irgendeinem besoffenen Typen hier angemacht wird?«
    Toni nahm einen tiefen Zug aus seiner Zigarette.
    »Ich kann selbst auf mich aufpassen«, sagte Sara.
    Im nächsten Moment drehte sich Toni zu mir her und umarmte mich. Er sprach in mein Gesicht, ich spürte seine Spucke auf meinen Wangen und meinen Augen, sodass ich unwillkürlich blinzelte und zurückweichen wollte. Er hielt mich fest umklammert. »Alter«, sagte er, »was regst du dich auf. Wir sind doch selber so besoffene, geile Schweine.«
    Er hielt mir gerne den Spiegel hin, weil er wusste, dass er sein Gesicht darin mühelos ertragen konnte, ich meines jedoch nicht. Er hatte es sich in der Haltung, die Welt für verdorben zu halten, bequem gemacht. Wen sollte es da stören, dass er es auch war oder sich zumindest so aufführte? Tonis Worte waren wie ein Gong für mich: Entweder ich ging jetzt nachhause, oder ich brauchte sofort etwas zu trinken.
    Die Frau, die ich kannte, ohne mich zu erinnern, woher, stand inzwischen allein an der Bar und lächelte mir zu. Ich beschloss, sie zu fragen, was uns verband – auch wenn ich damit vor ihr mein schändliches Vergessen offenkundig machte. Aber wenn ich in den vergangenen Monaten irgendeiner Sache gegenüber abgestumpft war, dann der: in ein Fettnäpfchen zu treten, als Idiot dazustehen.
    Ich sagte mir, dass es wohl das Beste war, mit der Tür ins Haus zu fallen: »Entschuldige, ich kenne dich, aber ich weiß nicht, woher. Steinige mich, wenn du willst.«
    »Womit denn? Hier sind keine Steine.«
    »Du kannst mir ja ein Glas über den Schädel hauen.«
    »Gerade noch eine Steinigung, jetzt nur ein Glas. Da bin ich aber enttäuscht. Gleich sagst du mir, dass ich dir ein Haar ausreißen darf.«
    »Bei einem Glas besteht auf jeden Fall eine reelle Chance auf eine Platzwunde.«
    »Wenigstens etwas.«
    »Asche auf mein Haupt.«
    »Wenn du dir Asche auf deine Platzwunde streust, kriegst du vielleicht eine Blutvergiftung.«
    »Sorgst du dann für ein schönes Begräbnis?«
    »Wenn schon keine schöne Leich, dann wenigstens ein schönes Begräbnis.«
    Wir lachten. Ich fragte sie nach ihrem Namen, sie hieß Kerstin und konnte sich – wie ich befürchtet hatte – an meinen erinnern.
    »So jemanden wie mich vergisst man nicht so schnell, was?«, sagte ich.
    »Zwei von deiner Sorte, das wär ja kaum auszuhalten.«
    Ich bestellte uns zwei doppelte Wodka.
    »Na dann.« Sie erhob ihr Glas. »Auf mich.«
    »Auf dich.«
    »Ex«, sagte sie.
    »Okay.«
    »Meine Güte.«
    »Was?«
    »Wie du das runterkippst.«
    »Du hast doch gesagt: ›ex‹?«
    »Tust du immer, was man dir sagt?«
    »Immer.«
    »Lauf auf allen vieren durchs Lokal und kläff wie ein Hund.«
    Ich ging in die Knie. Der Alkohol, der über das Geflecht der Adern und Venen durch meinen Körper rauschte, befand sich mit einem Schlag in meinem Kopf. Ich hatte kurz das Gefühl, ohnmächtig zu werden, rettete mich aber dadurch, dass ich mich nach vorne fallen ließ und mit

Weitere Kostenlose Bücher