Das fuenfunddreißigste Jahr
passgenauen architektonischen Korsett zusammengehalten wurden.
Die Altstadt gehörte zum Weltkulturerbe. Ständig wurde ein Gebäude renoviert, wurden alte Pflastersteine gegen neue ausgetauscht, wurde ein kupfernes Dach neu gedeckt oder die durch Witterung und Abgase mit einem grauen Schleier überzogene Mauer der Festung, die auf einem der beiden Stadtberge thronte, frisch verputzt und gestrichen. Eine so intensive Kosmetik konnte – in Verbindung mit den Touristenströmen – dazu führen, dass die Spuren der Vergangenheit etwas Putziges, Lebloses bekamen, um das man als Einwohner zumeist einen Bogen machte und es ganz den Touristen sowie öffentlichen Veranstaltungen überließ. In der Enge der Gassen, den Weiten der Plätze und im Schatten der Kirchen hatte ich mich jedoch immer wohler gefühlt als im übrigen Stadtgebiet, das ein von den Kompromissbauten der Baubehörden und Wohnungsbaugenossenschaften geprägtes und entsprechend konturloses Gesicht hatte. Die Altstadt war eine Eiche, die über Jahrhunderte ihre Pracht entwickelt hatte und in deren Schatten es sich angenehm träumen ließ.
Um ins »Icon« zu gelangen, mussten wir den Fluss überqueren, der die Stadt in zwei Hälften teilte. Als wir auf einen erst kürzlich fertiggestellten Steg kamen, der Fußgängern und Fahrradfahrern vorbehalten war, blieben wir stehen, traten ans Geländer und schauten auf die Fluten, die durch Mondlicht und städtische Beleuchtung dunkel glitzerten.
Ein leerer Club ist wie ein dezentes Versprechen. Alles, was später lärmt und lacht und klirrt, übt sich noch in Zurückhaltung. Der Zigarettenqualm brennt noch nicht in den Augen, hat sich noch nicht im Gewebe der Haare und Kleider verfangen, sondern liegt wie ein scharfes Gewürz in der Luft. Der Wortwechsel zwischen zwei Menschen ist noch ein Geben und Nehmen. Kaum etwas deutet auf das akustische Türen-Einrennen und Zäune-Niedertrampeln hin, wenn sich zwei Stunden später Körper an Körper drängen und die dröhnende Musik die Menschen dazu zwingt, einander anzubrüllen. Wobei von den Worten zu später Stunde ohnehin nur die Hülsen bleiben, die am Mann oder an der Frau zum Einsatz kommen. Als Toni und ich ins »Icon« kamen, taten wir es in dem Moment, in dem der eine Zustand in den anderen überging.
Der Lärmpegel stieg, der Club füllte sich. Ich entdeckte das eine oder andere bekannte Gesicht und nickte zur Begrüßung, als ich in der Menge eine Frau erblickte, die mir fremd war und dabei doch bekannt vorkam. Ohne einen Anhaltspunkt dafür zu haben, verband ich etwas Angenehmes mit ihr. Vielleicht hatten wir uns eines Abends gut unterhalten, miteinander getanzt, uns geküsst, ja waren vielleicht sogar miteinander ins Bett gegangen. Ich hätte die Frau gerne begrüßt, wusste jedoch nicht, was ich sagen sollte. Falls tatsächlich etwas zwischen uns gelaufen war, hatte sie sich vielleicht meinen Namen gemerkt, während ich mich an gar nichts erinnern konnte. Erfahrungsgemäß standen Frauen einem solchen Vergessen nicht gerade wohlwollend gegenüber.
Ich wollte mich gerade in eine andere Ecke des Lokals verziehen, als sie mich ebenfalls entdeckte. Ich hatte meinen Blick zu lange auf ihr ruhen lassen. Sie winkte mich umgehend zu sich hinüber. Ich lächelte nicht weniger unbeholfen zurück als ein Junge, der in ein Mädchen verknallt war und sich mit ihm plötzlich allein in einem Raum wiederfand. Die Frau schmunzelte, schien belustigt über meine Verlegenheit und hatte dabei die Größe, mich ohne einen bösen Blick davonkommen zu lassen. Sie war etwa Mitte zwanzig, vielleicht sah sie das alles noch nicht so eng, die Liebe, die Männer, das Leben. Vielleicht war ich ja auch nicht der erste Typ, der sich nach einer gemeinsamen Nacht aus dem Staub gemacht hatte, vielleicht hielt sie es hin und wieder genauso. Sie wandte sich wieder der Frau zu, die neben ihr an der Bar saß und mich die ganze Zeit über skeptisch gemustert hatte.
Ihre Reaktion gefiel mir, nötigte mir Respekt ab, und ich versuchte krampfhaft, mich daran zu erinnern, was uns verband. Zwecklos. Wahrscheinlich war ich der Frau an einem jener Abende begegnet, an denen Himmel und Hölle keinen Gegensatz darstellen: Steigen heißt Fallen, und der Suff ist eine ungleich verspieltere Form von Wirklichkeit, als es die Nüchternheit je sein kann. Wenn man kein Ende findet, kippt dieser Zustand natürlich. Während die anderen einen zunehmend als labernden, Haltung und Kontrolle verlierenden Idioten
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