Das fuenfunddreißigste Jahr
meinen ausgestreckten Armen vom Fußboden abstützte. Bevor ich mich daranmachte, auf allen vieren durchs Lokal zu laufen und zu kläffen, hockte sich Kerstin neben mich.
»Armes Hundi. Hat man dich ausgesetzt?«
»Wauwau.«
»Was machen wir denn mit dir?«
»Wauwau.«
»Ja. Das wird wahrscheinlich das Beste sein.«
Der Dancefloor des »Icon« war einer der wenigen, auf denen man sich zu Electro-Beats bewegen konnte anstatt zu den Fahrstühle, Supermärkte und Fitnesscenter flutenden Hits der achtziger Jahre. Ich empfand Electro weniger als Musik denn als Technik wie Yoga: Er half meinem Körper, meinen Bewegungen, aus der Motorik des Immergleichen auszubrechen (wobei jene, die ihm exzessiv verfielen, einer Gleichförmigkeit huldigten, die ebenso stupid war wie die, der sie entkommen wollten). Unter dem Blitzlicht der Beats zuckte nicht nur der Körper, es zuckte auch der Geist, es war ein seltsam taubes Einführen und Wiederherausziehen stumpfer Sound-Nadeln, die das Bewusstsein – noch dazu in Verbindung mit Pillen – weichkochten. Bis einem – nicht anders als beim Saufen – das große Elend kam, wenn man viel zu viel davon erwischt hatte. Es scheint nur so, als würde man beim Electro oder Techno in einer hämmernden Massenbewegung untergehen. Da, wo jemand das eigene gezielte Zucken oder unfreiwillige Abdriften zur Schau stellt, kam es mir immer so vor, als verharrte er in Wahrheit bei sich selbst und blähte sich zur Masse auf.
Die Tanzfläche füllte sich, und es dauerte nicht lange, da badete eine unruhig wogende Menge in sich selbst. Ganz gelingt es nie, sich beim Electro auf jemand anderen zu konzentrieren, immer wieder gibt es Einbrüche, in denen man die Bewegung des eigenen Arms nachverfolgt, statt am Arm der Partnerin dranzubleiben. Als ich mich nach längerer Zeit wieder einmal nach Kerstin umschaute, erblickte ich Toni und Sara. Toni hielt eine volle Flasche Wodka in der Hand, aus der er einen kräftigen Schluck nahm. Kerstin nahm sie ihm ganz selbstverständlich aus der Hand, trank und hielt mir dann die Flasche hin. Ihr Lächeln war wie eine Nadel, die auf einem Plattenspieler immer wieder auf derselben Stelle hängenblieb. Ich setzte an zu einem Schluck, von dem ich spürte, dass er der erste in jener Reihe war, die zu viel für meinen Organismus waren. Von da an sah ich die Menschen wie von einem fahrenden Zug aus: Sie zogen an mir vorüber, selbst wenn sie unmittelbar vor mir standen. Ihre Gesichter flackerten, als wären es bemalte Fetzen, unter denen ein Feuer brannte. Bald tanzten wir nicht mehr, sondern hielten uns aneinander fest. Ab und zu glaubte ich, das Kratzen von Schlittschuhkufen auf dem Eis zu hören. Was gesprochen wurde und wie ich nachhause kam, weiß ich nicht mehr. Für Augenblicke fand ich mich in der Dunkelheit eines Zimmers wieder. Ich hatte das Gefühl, wie durch Fingerschnippen wach geworden zu sein. Eine weibliche Stimme sagte: »Was machst du mit mir? Was machst du mit mir?« Allem Anschein nach war ich damit gemeint, was ich jedoch mit der Frau machte, zu der die Stimme gehörte, blieb unklar, da es sich um das letzte Stück Bewusstheit handelte, das ich in dieser Nacht zu fassen bekam.
Ein paar Tage später hatte ich einen Traum, so lebendig in seinen Sinneseindrücken und reich an Details wie kaum ein anderer.
Ich befand mich im Wald und war betrunken. Es war mitten in der Nacht, man konnte kaum die Hand vor Augen sehen. Ich stolperte mehr, als dass ich ging. Plötzlich gab der Boden unter meinen Füßen nach, ich rutschte weg und fiel eine Böschung hinunter. Ich versuchte an Steinen und Gebüsch Halt zu finden, mich mit den Beinen dem Fall entgegenzustemmen, was dazu führte, dass ich mir die Hände aufschürfte und den rechten Knöchel verstauchte.
Auf meinem Weg durch den Wald hatte ich mich an Ästen und Nadeln wundgescheuert. Als Kind hatte ich mich oft im Wald aufgehalten. Wer von Furcht erfüllt war, bewegte sich misstrauischer in ihm und rechnete jeden Augenblick damit, dass eine Schlange vom feuchten Grund emporzüngelte oder ein Wolf sich ihm in den Weg stellte. Wer hingegen eins mit sich und der Welt war, konnte über solche Dinge nur lachen. Die Furchtsamkeit hatte nicht zuletzt mit den Geschichten zu tun, die die Erwachsenen erzählten. Kinder galten ihnen als höchst gefährdete Gruppe. Sie wurden drangsaliert oder gar aufgefressen. Nicht selten spielten der Wald oder die Tiere des Waldes in ihnen eine Rolle, von der Gefahr ausging. Je
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