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Das fuenfunddreißigste Jahr

Titel: Das fuenfunddreißigste Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Truschner
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verleihen, wird sich daran nichts mehr ändern. Ich glaube jedoch nicht, dass das passieren wird. In den vergangenen dreißig Jahren hat mein Vater nur zweimal versucht, mit mir in Kontakt zu treten. Zumindest weiß ich nur von diesen beiden Malen. Es kann natürlich sein, dass meine Mutter mir dahingehend etwas verschweigt. Wenn es so ist – es gibt das eine oder andere Indiz dafür –, wird es sich jedoch um nichts Schwerwiegendes handeln. Höchstens um ein paar Briefe, die sie nicht an mich weitergeleitet, oder Anrufe, über die sie mich in Unkenntnis gelassen hat.
    Meine Mutter und mein Vater ließen sich scheiden, als ich etwa eineinhalb Jahre alt war. Vielleicht ist sein Tod, der mir so naheliegend erscheint, in Wahrheit schon in dieser Zeit begründet. Ich habe nicht mehr als eine Handvoll konkreter Erinnerungen an diese Zeit. Sie ähneln jenen letzten, sowohl dem Wachsein als auch den Träumen zugehörigen Eindrücken von Licht und Farbe, die man blinzelnd wahrnimmt, bevor man einschläft. Meine Großeltern sind dunkelblauschwarze Farbflächen auf einer weiß gestrichenen Wand, die plötzlich dreidimensional werden und sich gütig lächelnd über mich beugen. Meine Mutter wiederum steht im Türrahmen und stellt gleichsam die Grenze dar, die das gleißende Tageslicht, das den Hof in ihrem Rücken zum Glühen bringt, von der Dunkelheit des Vorzimmers scheidet, in dem die Zeit angehalten ist. Ich liege nicht mehr in der Wiege, sondern krabble auf einer hellblauen Decke am steinernen Boden auf sie zu. Ich strecke eine Patschhand nach ihr aus. Ich will sie erreichen, bevor sie sich wieder dem pulsierenden Leben der Außenwelt hingibt. Ein anderes Mal bin ich allein. Ich sitze auf dem Hintern und lasse meinen Blick über buntbemalte Holzwürfel schweifen, die über einem frisch eingelassenen, hellen Dielenboden verstreut liegen. Unmittelbar vor mir ein Stoffkasperl, an dessen roter Kappe eine schellende goldene Glocke angebracht ist. Ich nehme den Kasperl und schüttle ihn minutenlang nach Leibeskräften. Aber nichts passiert. Niemand kommt, um nach mir zu sehen oder mit mir zu schimpfen, und so schleudere ich den Kasperl von mir weg unter die Holzwürfel, von wo aus er mir mit ewig gleicher Schelmenmiene entgegenglotzt.
    Unter all diesen sich regenden und bewegenden Schemen befindet sich kein Umriss oder Fleck, nicht einmal ein Punkt, der auf die Existenz meines Vaters hinweist, ja eines Vaters überhaupt.
    »Sei froh.«
    Meine Mutter nimmt einen Schluck. Ich stelle mir vor, wie sie das Glas hebt und kurz einen Blick auf seinen Inhalt wirft, als sie es an ihre Lippen führt. Nicht anders als diese gelbgrüne Flüssigkeit ist ihr die Liebe: Sie beschwingt beim ersten Schluck, in Unmaßen genossen wirkt sie betäubend, macht einen letztlich krank.
    »Wie schön wäre das, wenn ich keine Erinnerungen an deinen Erzeuger hätte. Außerdem: Wenn er zu Hause war –«
    Sie bricht im Satz ab. Sie leidet an all diesen Worten – Liebe, Ehe, Zuhause, Mann, Vater –, die so folgerichtig scheinen, jedermann einleuchten und doch – in ihrem Fall – so unmöglich klingen, ja eine vollständige Umkehrung ihres Sinns darstellen, sodass es ihr geradezu wie eine Perversion vorkommt.
    »– da haben die Oma und ich immer geschaut, dass er dir nicht zu nahe kommt. Dir nichts tut. Ich will noch nicht einmal behaupten, dass er dir etwas tun wollte. Da hat er sich ganz an mich gehalten. Aber wenn er betrunken nachhause gekommen ist, musste man mit allem rechnen. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass ich manchmal um mein Leben gefürchtet habe, wenn ich mit ihm allein war. Der Opa war ja auch ein brutaler Mensch. Aber man wusste immer, warum er einen schlug. Es gab eben Regeln – seine Regeln. Wenn man die nicht befolgte, dann hatte man schneller eine gefangen, als man schauen konnte. Das tat auch weh. Aber es war eine klare Sache. Bei deinem Erzeuger wusste man nie, woran man war. Warum er einen schlug. Der Alkohol allein war es auch nicht, obwohl er sich natürlich mehr gehenließ, wenn er besoffen war. Manchmal kam er ja tagelang nicht nachhause von seinen Sauftouren. Dann hatten wir es immer schön. Oder wenn wir bei Oma und Opa waren. Vor dem Opa hat er richtig Angst gehabt. Aber gut. Wer hatte die nicht. Am schlimmsten war für mich, dass Oma und Opa mich immer wieder zu ihm zurückgeschickt haben. Eine Frau gehört nun mal zu ihrem Mann, haben sie gesagt. Ich habe geweint, ihnen erzählt, was er mit mir treibt. Aber sie

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