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Das fuenfunddreißigste Jahr

Titel: Das fuenfunddreißigste Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Truschner
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haben mich trotzdem zu ihm geschickt. Sicher, sie kannten es nicht anders. Der Oma hat das später leid getan, als es dann richtig schlimm wurde und man meinem Gesicht ansah, was er für einer war. Sie konnte richtig böse werden, wenn nur sein Name fiel. Geschweige denn, wenn er versucht hat, den Hof zu betreten. Trotzdem. Richtig verzeihen konnte ich ihr das nie.«
    Das erste Wiedersehen mit meinem Vater nach der Trennung meiner Eltern ist zugleich das erste Mal, dass ich mich überhaupt daran erinnere, ihn gesehen zu haben. Ich ging noch nicht zur Schule und wuchs auf dem Bauernhof bei meinen Großeltern auf, während meine Mutter in der fernen Stadt tagsüber arbeitete und nachts versuchte, die unbeschwerte Kindheit nachzuholen, die ihr vorenthalten worden war. Es war ein sonniger Vormittag und ich kickte gerade einen Plastikball mit einem Muster aus schwarzen und gelben Sechsecken gegen die zur Straße hin gewandte Außenseite unseres Stalls. Ein roter Wagen näherte sich unserem Hof. Anstatt bis zu unserem Haus vorzufahren, blieb er neben mir stehen. Ein Mann und eine Frau stiegen aus dem Wagen aus. Er war glattrasiert, hatte pomadiges, graumeliertes Haar und trug einen ebenfalls grauen Anzug, darunter ein weißes Hemd. Die Frau war um einiges jünger, die verschiedenen Komponenten ihrer Erscheinung waren penibel aufeinander abgestimmt: Sie trug ein weißes Kleid mit roten Punkten, dazu rote Schuhe. Der Lippenstift auf ihren Lippen war ebenso rot wie der Lack auf ihren Fingernägeln. Selbst das Band ihres Strohhuts war rot. An ihre Haarfarbe kann ich mich vor lauter Rot nicht mehr erinnern. Der Mann kam mir irgendwie bekannt vor, ich wusste jedoch nicht, woher. Als er ein paar Schritte auf mich zu machte, fiel es mir vermeintlich wieder ein, und ich sagte »Grüß Gott, Herr Doktor« – ich hielt ihn für den Tierarzt, der routinemäßig einmal im Jahr nach den Tieren sah. Der Mann war darüber offensichtlich erstaunt, sah zu der Frau hinüber, und beide lachten herzlich, ohne dass ich verstand, warum. Es sollte mir gleich klar werden. »Ja, sag mal«, sagte die Frau, »kennst du denn deinen eigenen Vater nicht?« »Nein, ich kenne ihn nicht. Nicht wirklich«, hätte ich wahrheitsgemäß zur Antwort geben müssen. Ich brachte natürlich kein Wort hervor, sondern war für einen Augenblick erstarrt, der Situation ausgeliefert – als hätte man mich mit einer Pinzette vorsichtig in ein Reagenzglas gesteckt, in dem es mir unmöglich war, mich zu bewegen.
    Ich löste mich aus meiner Erstarrung, als mein Vater einen Schritt auf mich zu machte. Es war eine seltsam linkische Bewegung, bei der er zugleich ein wenig den Kopf neigte und den Oberkörper verrenkte, sodass ich spürte, es blieb mir nicht mehr viel Zeit, bis er den Arm nach mir ausstreckte und mich zu fassen bekam. War die Tatsache, dass dieser Mann mein Vater war, bis dahin nichts als die Behauptung einer jungen Frau, die ich noch nie zuvor gesehen hatte, so war mir – dem Ziel dieser Vorwärtsbewegung – mit einem Mal klar: Das ist mein Vater! Meine Mutter hatte immer Angst davor gehabt, dass ihr Exmann eines Tages versuchen würde, mich zu entführen. Aber nicht, um mich bei sich zu haben, sondern um Geld für meine Rückgabe von ihr zu erpressen. Sie hatte mich angewiesen, mich nie von einem fremden Mann ansprechen oder gar anfassen zu lassen.
    Mein Herz schlug schneller. Mein Mund war trocken. Die Sonne war ein Kissen aus Licht, das mir aufs Gesicht gepresst wurde. Ich fühlte den Schatten des Mannes auf mir, bald würde ich im Netz seiner Finsternis zappeln. Aber bevor es so weit war, machte ich auf dem Absatz kehrt und rannte so schnell ich konnte ins Haus zurück. Dort versteckte ich mich unter dem Bett und lauschte der zornigen Stimme meiner Großmutter, die von ihm verlangte, das Grundstück unverzüglich zu verlassen. Was er schließlich tat, nicht ohne mit vor falscher Weinerlichkeit bebender Stimme seinem aus seiner Sicht berechtigten Anspruch Ausdruck zu verleihen. »Er ist doch auch mein Bub …«
    Gleich, ob er mich tatsächlich entführen oder einfach nur sehen wollte – der Versuch fiel im einen wie im anderen Fall kläglich aus. Wenn es ihm ein wirkliches Bedürfnis gewesen wäre, dessen Befriedigung keinen Aufschub duldete, hätte er mit wesentlich mehr Nachdruck, ja Leidenschaft zu Werke gehen müssen und sich nicht kampflos von einer alten Frau abwimmeln lassen dürfen, die ihm körperlich weit unterlegen war. Dass er es in den

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