Das fuenfunddreißigste Jahr
kennenlernten; scheinbar beliebiges Aufflackern von Gesichtern, Bewegungen, Eindrücken von einsamen Skitouren. All das störte mich auf und brachte mich schließlich dazu, wieder aufzutauchen. Schon im Wasser war mir – ohne dass ich es bewusst dachte oder mir in Gedanken vorsagte – klar, dass das Leben, zu dem ich auftauchte, ein anderes war als das, mit dem ich untergegangen war und das zum Grund hinabsank. Dort lauert es, ein wildes Tier, das eingesperrt ist und darauf wartet, dass ihm noch einmal die Stunde schlägt.
Das alles zusammengenommen hat mir einen tödlichen Hass dagegen eingeflößt, von irgendjemand abzuhängen als von mir selbst.
Montaigne, Essais III , ix
Ein Untoter
»Vater!«
Eigentlich hat mein Vater mein Leben nur gestreift. Das mag vielleicht seltsam klingen in Bezug auf einen Menschen, dem ich ebendieses Leben auf eine nicht unbeträchtliche Weise zu verdanken habe. Und doch entspricht es der Wahrheit. Einer von mir gefühlten zumindest. Gemäß dieser Wahrheit tangiert mich das Leben meines Vaters nicht mehr als der Rempler eines Fremden in der U-Bahn: Ich bin kurz irritiert, aber da ich es eilig habe, gehe ich weiter, ohne mich umzublicken. Was für die U-Bahn nichts Ungewöhnliches ist, ist es den eigenen Vater betreffend umso mehr. Ich wäre kein Mensch, wenn mit der banalen Tatsache des Zeugungsaktes alles gesagt wäre und sich Phänomene wie Charakter oder Neigungen ausschließlich in der Sprache der Spermien und Eizellen abhandeln ließen. Etwas über mich auszusagen hieße demnach, auch etwas über meinen Vater auszusagen – und umgekehrt. Nur was?
»Vater!«
Meine Mutter lacht. Es ist ein knurrendes, grimmiges Lachen. Ich höre, wie sie sich noch einen Prosecco eingießt. Ich bin deshalb nicht beunruhigt, da ich weiß, dass dieses Thema bei meiner Mutter eine Nüchternheit hervorruft, so hart und greifbar wie ein faustgroßer Stein in klarem Wasser. Wenn wir bei dem Thema bleiben, wird es sie aufregen und ihr förmlich die Kehle austrocknen. Sie wird diese Trockenheit, die nicht nur von ihrem Hals Besitz ergreift, sondern auch von ihren Gefühlen, ihrer Erinnerung, hinfortzuspülen versuchen – vergeblich, natürlich. Der Alkohol wird sie jedoch nicht betrunken machen, höchstens unvorsichtig in ihren Äußerungen, anfällig für Übertreibungen – ein Zustand, der sie manchmal Dinge aussprechen lässt, die sie sonst wohl für sich behalten würde.
»Das ist nicht dein Vater – das ist dein Erzeuger!«
Einer anderen Wahrheit zufolge wirft mein Vater – sein Aussehen, seine Handlungen – einen Schatten auf meine Existenz. Er ist nicht in der Lage, sie zu durchdringen – das war er nie. Dennoch vermochte er sie eine Zeitlang zu verdunkeln, ganz so, als wäre mein Leben mit dem Fluch des seinen belegt. Ich fühlte diesen Fluch als etwas durch und durch Lebendiges in mir. Längst nicht so lebendig wie mein Lebenswille oder auch nur eine heftige Verliebtheit. Und doch ein zweifelsfrei identifizierbarer, dunkler Funke, der schon das eine oder andere Mal erloschen schien, um sich doch immer wieder wie von selbst zu entzünden. Es spielt dabei keine Rolle, dass der Mensch, der imstande ist, eine solche Wirkung zu erzeugen, selbst wahrscheinlich schon längere Zeit tot ist. Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, ob es so ist – es ist eher eine Ahnung, die jedoch weniger damit zu tun hat, dass mein Vater mehr als zwanzig Jahre älter ist als meine Mutter, sondern damit, dass mir dieser Tod folgerichtig erscheint. Wohlgemerkt: folgerichtig, nicht wünschenswert. Mir schwebt bei dem Gedanken lediglich ein allmähliches Schließen der Akten vor, nichts sonst. Alles andere – Rache, Befreiung – wäre in diesem Fall zu viel. Und wirklich viel war es im Falle meines Vaters ja nie. Literarisch gesprochen war er kein Buch, kaum ein Kapitel. Ein prägnanter Absatz vielleicht, der – gemessen an seiner Quantität – einen übermäßigen Einfluss auf den Fortgang der Handlung hatte.
»Jeder andere wäre dir ein besserer Vater gewesen als der. Jeder!«
Dass ich meinen Vater vor mir und der Welt für tot erkläre, erleichtert das Sprechen über ihn ungemein. Ich kann über seinen Schatten als über etwas Gegenwärtiges sprechen, während ich den Mann, zu dem dieser Schatten gehört, unrettbar der Vergangenheit angehören lasse. Selbst wenn mein Vater sich eines Tages bemüßigt fühlt, aus seinem Loch hervorzukriechen, um lautstark seiner Lebendigkeit Ausdruck zu
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