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Das fuenfunddreißigste Jahr

Titel: Das fuenfunddreißigste Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Truschner
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darauffolgenden Tagen nicht noch einmal versuchte, ist mir ein Indiz dafür, dass er wohl einer Laune nachgeben hat, die so rasch verflog, wie sie über ihn gekommen war. Ich kann jedoch nicht behaupten, dass mich das getroffen hat. Für mich war es ein Ereignis unter vielen, die den Sommer für mich aufregend machten: die Begegnung mit einem Reh im raschelnden Dickicht eines Maisfeldes etwa oder die Nacht, in der wir vom Zaun aus mit ansahen, wie der Heuschober unseres Nachbarn abbrannte. Der Brand war für mich als Kind nicht zuletzt deshalb faszinierend, weil alle, die nicht unmittelbar damit zu tun hatten, sich darüber zu freuen schienen. Aber nicht aus Schadenfreude, sondern weil vom nächtlichen Feuer eine Schönheit ausging, die jeden berührte, ja beglückte, ob er wollte oder nicht. Selten habe ich meine Großeltern so einträchtig nebeneinander stehen und lächeln sehen.
    »Der hätte dich sicher entführt. Was denn sonst? Dem ist es immer nur ums Geld gegangen. Der hat sich für nichts interessiert, außer für sich selbst. Menschen waren dazu da, ihm einen Vorteil zu verschaffen. Wie er gemerkt hat, dass bei uns nichts zu holen ist, dass der Hof verschuldet ist und längst der Bank gehört, meine Güte, da ist er ausgerastet, ich sage dir, die Prügel habe ich noch eine Woche später gespürt.«
    Wenn dieser erste Versuch der Kontaktaufnahme als kläglich zu bezeichnen ist, so ist es der zweite – und letzte – umso mehr. Zehn Jahre waren vergangen. Ich hätte nicht einmal davon erfahren, wenn der Direktor des Gymnasiums, das ich besuchte, mich nicht zu sich gebeten hätte. Antritte beim Direktor gehörten für mich schon zur Routine, da ich – so mein Klassenvorstand – einer der undiszipliniertesten Schüler war, die die Schule je gesehen hatte. Ich schwänzte, lernte nur, wenn es mir nötig erschien, rauchte am Klo, beschmierte meine Jeans mit Kugelschreiber, saß im Unterricht zumeist in der letzten Reihe und unterhielt mich dort mit meinen Mitschülern so zwanglos, als befänden wir uns im Café.
    Der Direktor war ein im Alter milde gewordener Mann – zu milde, wie manche Lehrer fanden. Das Wissen um seine bevorstehende Pensionierung hatte ihn vom einstigen Pedanten zu einer Art Bonvivant werden lassen, der den täglichen Geschäften dem Vernehmen nach eher schlendernd nachging. Er hatte schlohweißes Haar, war stets glattrasiert, trug ausschließlich weiße Hemden, Manschettenknöpfe sowie Anzüge, die ihm offensichtlich auf den Leib geschneidert worden waren. Er wurde selten beim Essen beobachtet, wenn doch, widmete er sich ausführlich dem Schälen einer Banane. Was die Schule betraf, gehörte seine Leidenschaft dem Tragen von Hausschuhen. Als Schüler sah er einem sozusagen nicht in die Augen, sondern auf die Füße. Wenn er einen Schüler beim streng verbotenen Tragen von Straßenschuhen ertappte, bekam dieser jenen mit ein paar Eiswürfeln in der Stimme versetzten Satz zu hören, der dem Direktor im Grunde immer auf den Lippen lag: Wo sind deine Hausschuhe? Wenn man sich so aufführte wie ich, war es von Vorteil, dass man keine Straßenschuhe anhatte, wenn man vor den Direktor trat. Wenn man Hausschuhe trug, war alles halb so wild.
    Ich wusste nicht, worum es diesmal ging. Das war jedoch nicht ungewöhnlich, da meinen Vergehen nicht immer eine Absicht innewohnte. Ich benahm mich nicht immer bewusst daneben, sondern weil es mir schon selbstverständlich geworden war. Ich störte den Chemieunterricht, weil mir langweilig war und ich etwas gegen diese Langweile unternehmen wollte, und nicht, weil mir die Störung des Unterrichts Vergnügen bereitete. So war ich also neugierig zu erfahren, was ich angestellt hatte.
    Der Direktor forderte mich auf, mich zu setzen. Das war überraschend, weil er sich für gewöhnlich vor einen hinstellte und seine Größe – er war über eins achtzig – dazu nutzte, um seine Autorität zu unterstreichen. Ich setzte mich hin, und der Direktor stand nicht auf, sondern blieb sitzen, blickte auf die Unterlagen auf seinem Schreibtisch, auf dem es kein Durch- oder Übereinander gab, und rieb sich das Kinn. Ob ich Hausschuhe trug oder nicht, interessierte ihn diesmal nicht. Ein unangenehmes Gefühl beschlich mich. Vielleicht gab es ja eine Akte über mich, deren – trotz aller Verweise – stetes Anwachsen dem Direktor nun keine andere Handhabe mehr ließ, als die Ursache dieses Anwachsens von der Schule zu entfernen: mich.
    Ich legte mir in Gedanken bereits eine

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