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Das fuenfunddreißigste Jahr

Titel: Das fuenfunddreißigste Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Truschner
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Rede zurecht, in der ich umfassende Besserung gelobte, als der Direktor mich fragte, seit wann meine Eltern geschieden waren – eine Frage, die mich meine Rede umgehend vergessen ließ. Ich nannte dem Direktor nach kurzem Nachdenken einen Schätzwert, ich wusste es damals schließlich selbst nicht genau. Ob ich immer bei meiner Mutter gelebt hätte? Ich antwortete, dass ich die ersten Jahre bei meinen Großeltern gelebt hätte. Der Direktor sah von seinen Unterlagen hoch. Nie bei deinem Vater? Ich schüttelte den Kopf. Wann ich meinen Vater denn das letzte Mal gesehen hätte? Vor zehn Jahren, sagte ich wahrheitsgetreu. Der Direktor nickte mit dem Kopf. Dann würde ich ihn vielleicht gar nicht erkennen, wenn er auf einmal vor mir stünde, mutmaßte er. Ich hätte ihm zur Antwort geben können: vielleicht nicht am Aussehen, aber in der Art, wie er auf mich zugeht, sein Schatten auf mich fällt, wie er nach mir greift. Vielleicht. Aber ich antwortete ihm nicht, sondern sagte: »Wieso fragen Sie das?«
    Der Direktor, der gerade über den Schreibtisch gebeugt saß, lehnte sich in seinen Stuhl zurück und rieb sich wieder am Kinn. Auf dem Schreibtisch stand ein unbenutzter, flacher, metallener Aschenbecher. Er hatte schon vor einiger Zeit zu rauchen aufgehört. Vielleicht war dieser Aschenbecher für ihn so etwas wie ein Pokal – ein Ausdruck seines Triumphs über seine Sucht. Eine Palme verdorrte zu seiner Linken – eine Fahrlässigkeit, die so gar nicht zum ansonsten tadellosen Eindruck des Büros passen wollte.
    Ich wusste nicht genau, was nun kommen würde, aber ich hatte eine Ahnung.
    »Es ist vorhin jemand hier gewesen, der behauptet hat, dein Vater zu sein.«
    Er sah mich an, ich rührte mich nicht.
    »Nun, er wusste jedoch nicht, wie du aussiehst. Ich habe gefragt, wie das sein kann, aber darauf wollte oder konnte er mir keine Antwort geben. Nun, er hat mich dann gefragt, ob ich ihm dich nicht zeigen könne. Ich war mir zuerst nicht sicher. Vielleicht durfte er dich ja von Gesetzes wegen aus irgendwelchen Gründen nicht sehen. Aber ich habe dann doch beschlossen, es zu tun. Nachdem ich mich bei deinem Klassenvorstand nach deiner Anwesenheit erkundigt habe, sind wir in der großen Pause auf den Schulhof hinaus. In deiner Aufmachung bist du ja leicht auszumachen. Als ich dich erblickte, sagte ich zu ihm: Da! Das ist Ihr Sohn! Er stand eine Weile wie angewurzelt. Schließlich fragte ich ihn: Wollen Sie nicht zu ihm hingehen? Er schüttelte den Kopf. Stattdessen machte er sich daran, zu gehen. Ich fragte ihn noch, ob er keine Nachricht für dich hinterlassen wollte, was er verneinte. Sie gehen einfach so? Glauben Sie, dass das richtig ist, fragte ich ihn. Er meinte, es wäre für alle das Beste, dir nichts von seinem Besuch zu erzählen. Nun, ich war anderer Meinung. Er meinte, dass er es nicht ändern könne.« Der Direktor atmete durch. »Das war’s, im Großen und Ganzen.«
    An einer Wand hingen zwei Masken, vielleicht afrikanischen Ursprungs, auf jeden Fall aus dem ursprünglichen Lebenszusammenhang eines Naturvolks, dessen Nachfahren wahrscheinlich gerade in einem Auto saßen oder einen Schuss aus einer Pistole abgaben.
    Ob ich dazu etwas sagen wolle, fragte mich der Direktor. Ich schüttelte den Kopf. Der Direktor nickte. »Möchtest du nachhause gehen?« Die Versuchung war groß. Der Besuch meines Vaters hätte dadurch – wenn auch ohne Absicht – eine positive Auswirkung für mich gehabt. Gleichzeitig hätte es womöglich so ausgesehen, dass sein Besuch mich derart berühren oder gar durcheinanderbringen konnte, dass ich nachhause gehen, mich ins Bett legen, vielleicht sogar weinen musste. Wer weiß, was in einem Erwachsenenhirn wie dem des Direktors vorging? Oder in den Hirnen der Lehrer, die zweifellos von dieser Episode erfahren würden? Um Spekulationen dieser Art vorzubeugen und mir selbst zu zeigen, dass die Existenz meines Vaters an mir abprallte wie Regentropfen an einem geschlossenen Fenster, entschied ich mich dafür, nicht nachhause zu gehen.
    »Bis du dir sicher?«, fragte der Direktor. »Ja«, sagte ich. »Ganz sicher.«
     
    »Immer die alten Geschichten«, sagt meine Mutter, als sei es meine Schuld, dass die neuen Geschichten, die wir uns erzählen, auf unheimliche Weise immer mit diesen alten Geschichten zu tun haben. Dass am Anfang eines Gesprächs eine neue Geschichte steht und am Ende doch immer eine alte dabei herauskommt.
    Nicht einmal habe ich mich seither darum bemüht, den

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