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Das fuenfunddreißigste Jahr

Titel: Das fuenfunddreißigste Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Truschner
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Aufenthaltsort meines Vaters herauszufinden und ihn zu treffen. Ich weiß, dass viele Menschen sich auf eine solche Suche begeben: um das Unerklärliche ihrer Existenz zu deuten, die Lücke zu schließen, die ihr Leben ist, oder um endlich ein fester Bestandteil eines besonders erfüllenden wie auch erschöpfenden Gebildes zu werden: einer Familie. Erst neulich habe ich in einer Zeitschrift einen Bericht über eine Frau aus Kanada gelesen, die über Jahre und Kontinente hinweg nach ihrer Mutter gesucht hat, die sie einst unmittelbar nach der Geburt zur Adoption freigegeben hat. Sie beschrieb das Verhältnis zu ihren Adoptiveltern als äußerst liebevoll. Sie bezeichnete sich als einen glücklichen Menschen. Sie legte Wert auf die Feststellung, dass ihre Adoptivmutter für sie ihre Mutter im eigentlichen Sinne war, und dass sie es für immer bleiben würde, gleichgültig, wie das Aufeinandertreffen mit ihrer biologischen Mutter ausfallen mochte – so es denn jemals dazu käme. Alle Spuren, denen sie bis dahin nachgegangen war, hatten sich irgendwie im Sand verlaufen. Die Journalistin wollte von der Frau wissen, warum sie derart viel Zeit und Geld in ihre Suche investierte, wo sie doch angeblich ein glücklicher Mensch und in einem liebevollen Zuhause aufgewachsen war. Die Wortwahl der Journalistin legte die Vermutung nahe, dass ihr die Suche als solche rätselhaft war. Wahrscheinlich war ihr das Ganze in Wahrheit gleichgültig, eine Story eben, und sie wollte die Frau lediglich dazu bringen, emotional zu werden und der Leserschaft ihr Innerstes offenzulegen. Die Frau antwortete, dass sie nicht damit rechnete, dass sich ihr Leben nach dieser Begegnung groß ändern würde. Es sei ihr einfach ein Bedürfnis, zu wissen, woher sie komme, wo ihre Wurzeln lägen. Sie war der Meinung, dass wohl ein jeder Mensch dieses Bedürfnis verspürt, ob er will oder nicht.
    Ich habe ein solches Bedürfnis in Bezug auf meinen Vater nie verspürt. Ich hatte einfach keine Frage, die ich ihm stellen wollte. Er kam mir weniger wie das fehlende Glied einer Kette als wie ein schwarzes Loch vor, ein Zeit- und Raumvernichter, in dessen Herzen die für den Menschen am schwersten verträgliche Substanz wurzelte: das blanke Nichts. (Vielleicht wäre das anders, wenn ich gar nichts über ihn wüsste, ihm nie begegnet wäre. Wenn er für mich immer schon dieses schwarze Loch gewesen wäre, zu dem er mir im Laufe der Jahre geworden war. Anders als die Frau in Kanada hatte ich die Freiheit, nichts von ihm wissen zu wollen. Ich konnte eine Entscheidung treffen und diese Entscheidung, wann immer ich wollte, revidieren – ein Umstand, der mich wohl vor jeder Sentimentalität bewahrt hat.)
    Auch wenn ich ihn zu den Akten gelegt habe, deren Vernichtung mit der Stunde meines Todes einhergeht, so kann ich ihm – oder besser gesagt: den Folgen seines Tuns – doch nicht ganz entkommen. Es ist noch nicht lange her, dass ich im Posteingang meines E-Mail-Kontos eine Nachricht vorfand, die in etwa folgenden Wortlaut hatte: »Hallo R.M., ich nehme auf diesem Weg Kontakt zu Ihnen auf, weil es sein könnte, dass wir denselben Vater haben, H.M. Ich wurde – wie Sie – in Klagenfurt geboren und bin das einzige Kind von H.M. und E.S. Meine Eltern zogen später nach Deutschland. Aufgrund von Recherchen, die ich über das Leben meines Vaters angestellt habe, halte ich es für wahrscheinlich, dass Sie mein Halbbruder sind. Wenn Sie das interessiert und Sie mehr darüber erfahren wollen, schreiben sie mir. Es würde mir viel bedeuten.«
    Die Tatsache, dass ich vielleicht eine Halbschwester habe, überrascht mich nicht. Ich wusste, dass mein Vater wieder geheiratet hat. Mit großer Wahrscheinlichkeit nebenher – wie man so grausam präzis sagt – Kinder liegenlassen hat. Ob ich mich für einen Kontakt zu dieser möglichen Halbschwester öffnen kann, weiß ich nicht. Sie trägt eine Hypothek mit sich herum, die sie für einen solchen Kontakt disqualifiziert: Sie ist Fleisch vom Fleisch meines Vaters – etwas also, dessen Gegenwart ich meide. Es gab Zeiten, da hätte ich diesbezüglich am liebsten meine eigene Gegenwart gemieden, wenn sich das hätte einrichten lassen.
    »Du übertreibst«, sagt meine Mutter. »Das hast du ja immer schon gern getan.« Es ist keine Spitzfindigkeit in ihren Worten. Ihre Stimme ist weich, sie bettet ihre Worte in samtene Kissen. Es hört sich so an, als ob ihre Vokale mir zuzwinkerten, als hätte sie heute noch einiges vor, was jedoch

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