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Das fuenfunddreißigste Jahr

Titel: Das fuenfunddreißigste Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Truschner
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wäre ich auf deinen Vater freilich nicht hereingefallen. Ich kannte ja nur die ungehobelten Burschen in meiner Umgebung. Die haben den Mund nicht aufgebracht und einen immer so grob angefasst. Damit konnte ich nichts anfangen. Er war da ganz anders. Er wusste, wie man eine Frau behandelt. Ihr schöntut, sie anfasst. Schöne Hände hat er gehabt, klein, zart. So wie deine. Nicht solche Pranken wie der Opa. Später hab ich gewusst, dass es keine Pranken braucht, um hart zuzuhauen. Er hat genau gewusst, welche Knöpfe er bei einer Frau drücken muss. Die Kerle wollten einen ja immer sofort aufs Kreuz legen, am besten gleich auf der Wiese hinterm Bierzelt. Er hat sich Zeit gelassen, mir beim ersten Mal nur einen Kuss auf die Wange gegeben. Hat mir sogar Briefe geschrieben. Stand nichts Weltbewegendes drin, aber immerhin. Irgendwann war ich dann so weit, dass ich geglaubt hab, er ist der Richtige für mich, er ist ganz anders als die anderen. Ich hab mich halt nach Liebe gesehnt und nach einem Mann, der zu mir passt. Ich hab meine Sehnsucht auf ihn projiziert. Er hat das natürlich gespürt, er war ja erfahren genug, fast zwanzig Jahre älter, und er hat meiner Sehnsucht Nahrung gegeben. Wie alle Männer, die einen rumkriegen wollen. Als er mich dann gehabt und doch nicht bekommen hat, was er wollte, hat er sein wahres Gesicht gezeigt.«
    Meine Mutter schweigt. In ihrem Schweigen werden Insekten von der Luft allein zerquetscht, gehen Planeten wie nebenbei zugrunde.
    »Die Liebe ist grausam. Ich habe mich gegen die Liebe entschieden. Vielleicht ein bisschen zu früh. Vielleicht ein bisschen zu konsequent. Sich für die Liebe zu entscheiden, bedeutet auch, sich für den Schmerz zu entscheiden. Entweder, es tut einem jemand weh, oder man tut jemand anderem weh. Davon hatte ich mit 23 schon genug. Ich wollte keine Schmerzen mehr. Nie mehr.«
    Meine Mutter atmet durch, sie hat geredet, ohne Luft zu holen. Da sie von der Geschichte ihres Lebens fürs Erste erschöpft ist, legt sie eine Pause ein und schaltet auf Smalltalk um. Sie tut es nur ungern, da sie mich kennt und zu Recht fürchtet, ich könnte dies zum Anlass nehmen, das Gespräch zu beenden.
    »Und was machst du heute noch?«
    »Ich hab noch eine Verabredung.«
    Ich höre, wie augenblicklich ein Licht in ihrem Kopf angeht. »Mann oder Frau?«
    »Warum?«
    »Jetzt sag schon!«
    »Frau.«
    »Jemand Neues?«
    »Eine alte Freundin.«
    »Ach so. Ich dachte schon.«
    Meine Mutter mochte meine Exfreundin Sonja und trauert meiner einzigen langjährigen Beziehung inzwischen mehr nach als ich selbst. Wahrscheinlich hat sie geglaubt, Sonja könnte einen positiven Einfluss auf mich ausüben. Sie wurde nicht müde, sie mir anzupreisen, mir ihre Vorzüge aufzuzählen und mir klarzumachen, was für ein Glück ich hatte, dass eine Frau wie Sonja sich für mich interessierte. Schließlich hatte ich ja noch nicht besonders viel erreicht im Leben. Sonja besuchte neben ihrer Arbeit als Physiotherapeutin Fortbildungskurse und erwarb zusätzliche Qualifikationen, etwa als zertifizierte Pilates-Trainerin. Meine Mutter hoffte, dass ich mir an ihr ein Beispiel nahm, mich weiterbildete und mich nach einer Arbeit umsah, die meinem Studium angemessen war. »Wozu soll denn das Ganze sonst gut gewesen sein?«, meinte sie und hatte natürlich nicht ganz unrecht damit. Sie beschwerte sich, dass ich ihr Sonja vorenthielt. Wahrscheinlich, weil ich Angst hatte, dass sie sich zu gut verstehen, vielleicht sogar Freundinnen werden würden. Es hätte meine Mutter fassungslos gemacht, zu erfahren, dass mich keine Schuld traf, sondern dass Sonja ihr aus dem Weg ging. Sie war der Meinung, dass sie die wenige freie Zeit, die ihr neben der Arbeit blieb, sinnvoller nutzen konnte, als sie mit jemandem zu verbringen, der – wie meine Mutter – nicht zuhören konnte und ständig nur von sich selbst sprach. Ich brachte es nicht übers Herz, meiner Mutter die Wahrheit zu sagen, also musste ich mir immer eine Ausrede einfallen lassen, warum Sonja wieder einmal nicht mitgekommen war. Sonja war tatsächlich fleißig – aber der Ruf, den sie bei meiner Mutter genoss, war in gewisser Hinsicht das Ergebnis meiner Ausreden, ein Produkt meiner Phantasie also, was umso absurder war, da meine Mutter sie dafür bewunderte. Im Grunde kannte meine Mutter Sonja überhaupt nicht.
    »Kenne ich die Dame?«
    »Ich glaube nicht. Sabine.«
    »Sabine? Etwa die mit der Tankstelle?«
    »Genau die. Dass du dich daran erinnerst.«
    »Mein

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