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Das fuenfunddreißigste Jahr

Titel: Das fuenfunddreißigste Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Truschner
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nichts mit dir zu tun. Du willst wissen, wie es zur Scheidung gekommen ist? Ich weiß zwar nicht, was daran interessant sein soll, aber bitte. Nicht ich wollte die Scheidung, sondern er. Ich hätte damals gar nicht den Mut gehabt, ihn um die Scheidung zu bitten. Ihm gegenüberzutreten. Ich hatte viel zu viel Schiss vor ihm. Es war so: Eines Tages bekomme ich einen Brief, der als Absender seinen Namen hat und die Adresse seiner Eltern. Seine Mutter hat mir bei der Hochzeitsfeier noch den Kopf gestreichelt und gesagt, man hat es nicht leicht mit ihm. Die hätte mich mal vorher warnen sollen. Auf jeden Fall, wie ich seinen Namen lese, fange ich im selben Augenblick an zu zittern. Ehrlich. Der Schreck ist mir in die Glieder gefahren, dass ich mich übergeben musste. Ich habe gedacht: So, jetzt hat er mich ausfindig gemacht, jetzt kommt er mich holen, und der ganze Wahnsinn beginnt von vorn. Ich hab den Brief erst gar nicht gelesen, sondern in meiner Panik angefangen, meinen Koffer zu packen. Ich wollte so schnell wie möglich weg. Ich weiß gar nicht, was ich da alles eingepackt hab. Auf jeden Fall hab ich mich dann beruhigt und den Brief doch gelesen. Und was lese ich da? Er hatte wieder eine Dumme gefunden. Um sie heiraten zu können, musste er sich aber natürlich erst von mir scheiden lassen. Er hat mir in dem Brief versprochen, dass er die Schuld am Scheitern der Ehe zur Gänze auf sich nimmt und für immer aus meinem Leben verschwindet, wenn ich rasch in die Scheidung einwillige. Er hat es offensichtlich eilig gehabt, wahrscheinlich war schon das nächste Kind unterwegs. Zum Scheidungstermin habe ich nicht nur ein paar Freunde mitgenommen, sondern auch ein paar Valium geschluckt, sonst hätte ich das nervlich nicht durchgestanden. Ich habe kaum meine Unterschrift unter das Formular setzen können, so schwummrig war mir. Stell dir vor, am Ende wollte er mir tatsächlich noch einen Kuss geben, das Schwein. Nichts für ungut, Puppe, hat er gesagt. Ich weiß nicht, was passiert wäre, wenn ich in dem Augenblick ein Messer in der Hand gehabt hätte.«
    Die Angst, mein Vater könnte eines Tages vor der Tür stehen, verfolgte meine Mutter bis in den Schlaf, aus dem sie oft schweißgebadet erwachte. Sie hat nie mehr mit einem Mann zusammengewohnt, geschweige denn noch einmal geheiratet. Über Jahre suchte sie sich die Männer danach aus, wie beziehungswillig oder gar -unfähig sie waren, ob sie Nähe wollten oder nur ihren Spaß. Es gehört zu ihrer speziellen Tragik, dass sie sich blendend verstellen konnte, sodass man nur allzu leicht glauben konnte, sie wäre auch nur auf Amüsement aus. Männer, die ernsthaft an ihr interessiert waren, biss sie regelrecht weg wie ein in die Enge getriebenes Tier. Verrückt, wenn man bedenkt, wie lange mein Vater Macht über ihr Leben hatte, und wie wenig Zeit sie in Wirklichkeit miteinander verbracht hatten. Ich konnte meinen Vater inzwischen in mir begraben. Im Leben meiner Mutter wird er wohl für immer als Untoter herumgeistern.
    Ich habe mich früher manchmal – etwa, nachdem ich wieder einmal betrunken in eine Schlägerei verwickelt war – gefragt, wie schwer wohl sein Anteil an meiner Persönlichkeit wiegt. Dies wäre nun der Moment gewesen, wo eine Neugier auf ihn und damit gewissermaßen auf mich selbst sich hätte einstellen müssen. Allein, sie stellte sich nicht ein, sie tut es bis heute nicht, und wenn ich nun an meine mögliche Halbschwester denke, legt sich über sie und ihre Geschichte dieselbe mehlige Gleichgültigkeit, die ich inzwischen allem entgegenbringe, das mit meinem Vater zu tun hat, mit meiner Familie überhaupt, und mir schwant, dass ich als Konsequenz dieser Einstellung weiterhin keine Halbschwester haben werde, selbst wenn es eine solche gibt.
    Ich höre, wie meine Mutter sich eine Zigarette anzündet. Ich verzichte darauf, sie dafür zu tadeln. Ich höre, wie sie den Rauch einatmet, und nehme die Geräuschlosigkeit jenes Moments wahr, den er in ihrer Lunge verbleibt. Dann atmet sie aus, seufzend, beschwert, als hätte sich der Rauch in der kurzen Zeit mit etwas vermengt, das ihn gleichsam als Medium benutzt, um den Körper meiner Mutter zu verlassen und ins Freie zu gelangen. Dort gelingt es ihm jedoch nicht, den Orbit meiner Mutter zu verlassen, und er umwölkt sie als schaler Rauch der Zigaretten und der Jahre.
    »Wenn man jung ist, weiß man gar nichts. Jung sein heißt dumm sein. Wenn ich gewusst hätte, was du in dem Alter schon gewusst hast, dann

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