Das fuenfunddreißigste Jahr
nicht am Prosecco liegt, sondern an der weißen Rose der Gleichgültigkeit, die ich meinem Vater gegenüber empfinde, der sie die schwarze Rose ihres Hasses zur Seite geben kann, um ihm beide Blumen mit wegwerfender Geste in jenes offene Grab nachzuwerfen, das sie ihm in Gedanken schon so oft geschaufelt hat.
Mein Vater ist eine Art Privatmythos. Er entstammt einer Zeit, als Menschen und Götter einander noch kräftig beim gegenseitigen Schädeleinschlagen unterstützten – und zwar nicht nur in von Mitteleuropa aus gesehen entlegenen Teilen der Welt, sondern in jenem Flecken Österreichs, in dem ich zur Welt kam. Meine Mutter – Jahrgang 1946 – wurde im Religionsunterricht mit Ohrfeigen dafür bedacht, dass sie tags zuvor zu spät zum Gottesdienst erschienen war, ohne dass sich jemand groß daran stieß. Die Tatsache, dass sie morgens im Stall zu arbeiten hatte, spielte da keine Rolle. Der Nachbar, ein besonders gottesfürchtiger Mann, schlug seiner Tochter mit dem Zaumzeug der Pferde den Rücken blutig, als diese sich nachts einmal aus dem Haus geschlichen hatte, um zu einer Tanzveranstaltung zu gelangen. Solche Dinge stellten keinen Widerspruch dar, sondern verliehen einander in der ländlichen Umgebung erst einen höheren Sinn. Wenn man an diese in vielen Büchern beschriebene, vom Katholizismus und vom Nationalsozialismus in gnadenlose Bahnen gelenkte Verrohung denkt – wen kann es da verwundern, dass eine junge Frau nach der ersten Gelegenheit greift, um ihr zu entkommen?
Im Grunde war meine Mutter noch ein Mädchen, das wenige Erfahrungen mit Männern gemacht hatte, noch gar keine mit der Liebe. Als sie die Regel bekam, dachte sie noch, sie müsse sterben. Als sie bei strengem Frost die Kühe auf die Weide treiben musste, hatte sie dermaßen kalte Füße, dass sie ihre Abscheu überwand und sich barfuß in einen frischen, dampfenden Kuhfladen stellte. Sie träumte – wie die meisten Mädchen im Dorf – von einem ganz anderen Leben an einem Ort, der so weit wie möglich von dem entfernt war, an dem sie sich damals befand. Wie dieses Leben aussehen sollte – abgesehen davon, dass es ihr einen gewissen Luxus bot –, davon machte sie sich keine rechte Vorstellung. Wie sie es zu diesem Leben bringen sollte, erst recht nicht. Da kam dann dieser fesche, schnittige, kräftig gebaute und doch in Gestik und Ausdrucksweise durch die Stadt verfeinerte Hochstapler und Kleinkriminelle ins Spiel, der mein Vater war. Als er erkennen musste, dass es an Mitgift nichts Nennenswertes zu holen gab (mein Großvater hatte den Hof zu jenem Zeitpunkt versoffen und verspielt), war er bereits mit meiner schwangeren Mutter verheiratet. Seine Enttäuschung darüber, dass die Ehe eine Fehlinvestition zu sein schien, war groß. Er überwand sie, indem er sich jener Methoden bediente, die meine Mutter dank seiner Hilfe hinter sich gelassen zu haben glaubte. Weit gefehlt. Er erwies sich als wahrer Großmeister der Gewalt, sodass ihr das, was sie bis dahin unter meinem Großvater und von ihren Lehrern zu erleiden hatte, wie ein Trockentraining erschien. Er brach ihr die Nase. Er schor ihr die langen Haare zur Glatze. Er sperrte sie tagelang in eine finstere Dachkammer ein. Er drückte eine Zigarette auf ihrer Brust aus. Als andere Kriminelle ihn unsanft an die Schulden erinnerten, die er bei ihnen hatte, wollte er sie dazu zwingen, für ihn anschaffen zu gehen. Sie ging augenscheinlich darauf ein, nutzte jedoch den ersten Moment zur Flucht. Sie besaß nicht mehr als das, was sie am Leibe trug – und das, was gerade in ihr heranwuchs und schließlich um etwa fünf Uhr früh im Jahr 1974 zur Welt kam: ich.
Wie ihr schließlich die Flucht vor ihm gelang; wer ihr dabei geholfen hat und warum; warum mein Vater sie so einfach entkommen ließ und nicht versuchte, sie zurückzuholen; wie es dazu kam, dass sie wieder mit ihm in Verbindung trat und er in die Scheidung einwilligte – davon weiß ich so gut wie nichts. Es gibt Episoden aus ihrer Vergangenheit, auf die meine Mutter immer wieder zurückkommt. Die sie immer wieder aufgreift. Über andere wiederum verliert sie nicht viele Worte, wenn ich sie darauf anspreche. Beharre ich auf einer Antwort, läutet das über kurz oder lang das Ende unseres Gesprächs ein.
»Das stimmt doch überhaupt nicht. Du kannst mich alles fragen. Ich habe keine Geheimnisse vor dir. Na ja. Eines vielleicht. Aber das ist normal. Jede Frau hat ihr kleines Geheimnis. Aber das geht dich nichts an. Das hat
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