Das fuenfunddreißigste Jahr
Gedächtnis funktioniert wesentlich besser, als du glaubst. Außerdem war diese Sache wirklich übel. Das arme Mädchen. Wie geht’s ihr denn jetzt?«
»Sie hat ein Kind bekommen. Einen Jungen. Elias.«
»Elias … diese Namen heutzutage …«
Ich hatte Sabine von meinem Besuch bei Carsten erzählt, und dass er sich von seiner Frau getrennt hat. Sie hatte schweigend zugehört und danach zu Boden geblickt. Ihr Haar schob sich seitlich wie ein Vorhang vor die Nacktheit ihres Blicks. Sie wurde für einen nicht enden wollenden Augenblick zu Stein – ein steinernes Buch mit steinernen Seiten, die zu schwer waren, dass man sie umblättern hätte können. Ihre gefärbten Haare waren am Ansatz ausgewachsen, ich konnte den inzwischen aschblonden Untergrund sehen, der mit einer forschen Komposition blonder und brauner Strähnen bedeckt war. Man hätte meinen können, sie selbst wäre von Carsten verlassen worden. »Nichts hält ewig«, war alles, was sie dazu sagte, als sie schließlich den Kopf hob und mich ansah – ein Spruch, der von meiner Mutter hätte sein können.
»Wenn man Kinder hat, gibt es Wichtigeres als Romantik.« Sabine fand es großartig, wie Carsten die Verantwortung für seine Kinder übernahm und ihnen, wenn schon keine heile, so doch wenigstens eine funktionierende Familie bieten wollte. »Kinder brauchen stabile Verhältnisse.« Es war jedoch nicht nur die Mutter, die sie nun war, die aus diesen Sätzen sprach, sondern auch die Frau. Elias’ Vater dachte nicht daran, Verantwortung zu übernehmen und für sie und seinen Sohn zu sorgen. Früher hatte Sabine ihre Männergeschichten immer mit mir besprochen, sie wollte von mir die männliche Sicht der Dinge hören und mir stellvertretend für alle Männer gleichzeitig nicht nur ihren, sondern den weiblichen Standpunkt an sich nahebringen. Über den Vater ihres Kindes zu sprechen, fiel ihr jedoch schwer, ich kannte nicht mal seinen Nachnamen. Die zwar brüchige, dabei mühsam errungene, stolze Trockenheit in ihrer Stimme schob allen weiteren Fragen über den Kindsvater einen Riegel vor. Sie bat mich, es nicht persönlich zu nehmen.
Es war jedoch nicht so, dass sie verbittert wirkte, im Gegenteil, schon lange nicht mehr – vielleicht überhaupt noch nie – hatte ich sie so kraftvoll gesehen, zupackend, eine wahre Hüterin des Feuers, für die die Gegenwart ein Baumstamm war, dem man mit Axt und Säge unerbittlich zu Leibe rückte, bis er eine beachtliche Menge Brennholz ergab, das man an der Hauswand entlang stapelte. Elias’ Geburt hatte Kräfte in ihr freigesetzt, die abrufbereit in ihr geschlummert haben mussten, ohne dass wir die leiseste Ahnung davon hatten. Sie war schon immer lebhaft gewesen, leicht erregbar, aber sie konnte sich nur schwer konzentrieren – ob auf einen Mann, eine Prüfung oder einen Film, der länger als neunzig Minuten dauerte. »Ich bemühe mich ja«, sagte sie in einem Tonfall, als ob dem Scheitern dieser Bemühungen eine gewisse erotische Qualität zukam. Ihre Aufmerksamkeitsspanne war vergleichbar mit der Haltbarkeit jener Gebirgslandschaften aus Schaum, die ihren Körper umhüllten, wenn sie in der Badewanne lag und ihr Bewusstsein in Rosen-, Vanille- und Rotweinschwaden dahinschmolz wie ein Stück Seife im Badewasser.
Wie sie jedoch vor zwei Wochen auf ihrem Sofa gesessen war und vor meinen Augen den Mund ihres Sohnes mit einer eigentümlich würdevollen Zufriedenheit an ihre Brustwarze führte und ihn stillte, war klar, dass ihr das – wie vielen anderen Frauen – nicht wie selbstverständlich in den Schoß gefallen war, sondern dass sie es dem Leben abgerungen hatte. Ich hatte sie immer gemocht, geachtet, aber in diesem Moment hatte ich das erste Mal wirklich Respekt vor ihr gehabt – jedoch weniger vor ihrer biologischen Mutterschaft als davor, wie sie sich offensichtlich auf das für sie Wesentliche besonnen und es trotz ungünstiger Umstände umgesetzt hatte.
Es gibt Frauen in meinem Bekanntenkreis, deren Gedanken und Gefühlsregungen vom immer lauteren Ticken ihrer biologischen Uhr überlagert werden, bis sie irgendwann völlig im hormonellen Betriebslärm untergehen. Jede Ü30-Party ist für diese Frauen nicht nur eine Ablenkung oder eine potenzielle Partnerbörse, sondern auch ein Antreten zum Appell, ein Durchzählen, ein Heraustreten aus der Reihe, dazu das Gebrüll des Feldwebels: »Was? Immer noch Single? Immer noch keine Befruchtung? Immer noch keine Schwangerschaftsmassage? Immer noch keine
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