Das Fulcanelli-Komplott (German Edition)
hasserfüllten Blick verschwand er über den Rand und war nicht mehr zu sehen.
Es dauerte eine weitere Stunde, bis Ben einen Weg hinunter in das bewaldete Tal hinter dem Berg gefunden hatte. Er setzte sich auf einen moosbewachsenen Baumstumpf, um ein wenig zu verschnaufen. Ein Paar anständige Armeestiefel wären ihm jetzt sehr willkommen gewesen. Seine leichten Schuhe waren mehr oder weniger zerfetzt, und seine Füße fühlten sich wund an und brannten.
Das kann es nicht sein , dachte er bei sich, als er den Blick über das Tal schweifen ließ und eine bestimmte Stelle besonders in Augenschein nahm. Und doch, der Karte und dem Kompass nach zu urteilen, musste es genau dieser Ort mitten im Nichts sein. Es gab hier sonst nichts – nichts außer wilder, unberührter Landschaft.
Vor ihm, ein paar hundert Meter entfernt auf der anderen Seite des Tals, lag der Gegenstand seiner Zweifel. Ein weißes Haus, das sich am Fuß eines hohen, bedrohlich aufragenden Berges duckte. Ben stieß einen Seufzer aus. Er hatte nicht gewusst, was ihn erwartete – vielleicht eine Ruine, vielleicht sogar ein Steinkreis oder sonst irgendwas. Aber diese schicke, moderne, weißgekalkte Villa hatte er ganz bestimmt nicht erwartet an der Stelle, wo das Haus des Raben stehen sollte.
Im Vergleich zur Architektur dieser Gegend war es eine radikale Konstruktion: kastenförmig, mit flachem Dach und ganz anders als die üblichen Steinhäuser im ländlichen Languedoc. Es sah aus, als wäre es erst in den letzten Jahren irgendwann errichtet worden – und doch schmiegte es sich mit fast magischer Leichtigkeit in seine natürliche Umgebung ein, als stünde es bereits seit Jahrhunderten dort.
Ben näherte sich dem Tor in der Mauer, die das Grundstück umgab, als eine Stimme erklang. «Hallo? Ist da jemand?»
Eine Frau kam ihm durch einen hübschen, gepflegten Garten entgegen. Sie war groß, dünn und hatte eine aufrechte Haltung. Ben schätzte sie auf Mitte bis Ende fünfzig. Was ihm am stärksten an ihr auffiel, waren die große dunkle Sonnenbrille und der lange weiße Stock, mit dem sie sich den Weg ertastete. Vorsichtig betrat sie den Pfad zum Tor. Sie lächelte und sah knapp an Ben vorbei über seine Schulter.
«Ich habe gerade Ihr wunderschönes Haus bestaunt», sagte Ben zu der blinden Frau.
Ihr Lächeln wurde breiter. «Ah, Sie interessieren sich also für Architektur?»
«Das tue ich, ja», antwortete Ben. «Allerdings frage ich mich auch, ob ich Sie vielleicht um ein Glas Wasser bitten dürfte? Ich bin soeben über den Berg gekommen und sehr durstig … Würde es Ihnen etwas ausmachen?»
«Selbstverständlich nicht. So kommen Sie doch herein», lud die Frau ihn ein und wandte sich in Richtung Haus. «Folgen Sie mir. Seien Sie vorsichtig mit dem Riegel, er geht ziemlich schwer.»
Ben folgte der blinden Frau den gepflasterten Weg hinauf zum Haus. Sie führte ihn durch eine große Diele in eine moderne Küche und tastete mit dem Stock nach dem Kühlschrank. Sie nahm eine Flasche Mineralwasser heraus. «Im Schrank sind Gläser», teilte sie Ben mit. «Bitte bedienen Sie sich selbst.»
Sie setzte sich zu ihm an den Tisch und wartete geduldig ab, während er zwei große Gläser Wasser trank.
«Sie sind wirklich sehr freundlich, danke sehr», sagte Ben. «Ich bin den ganzen Weg von Rennes-le-Château bis hierher gelaufen. Ich suche nach dem Haus des Raben.»
«Sie haben es gefunden», erwiderte sie mit einem Schulterzucken. «Dies ist das Haus des Raben.»
«Das hier? Das kann nicht sein.» Es konnte einfach nicht stimmen. Die Villa war modern. Wie war sie in einem achtzig Jahre alten alchemistischen Manuskript gelandet? «Vielleicht habe ich mich geirrt», fuhr er fort. «Das Haus, nach dem ich suche, ist sehr alt.» Ein Gedanke durchzuckte ihn. «Wurde dieses Haus vielleicht an einer Stelle errichtet, wo früher ein anderes stand?»
Sie lachte. «Nein, das hier ist das originale Haus. Es ist viel älter, als es vielleicht aussieht. Es wurde 1925 gebaut, und es heißt nach seinem Architekten.»
«Wer war der Architekt?»
«Sein richtiger Name war Charles Jeanneret, doch er war besser bekannt unter seinem Künstlernamen Le Corbusier. Sein Spitzname war Corbu .»
«Corbu», wiederholte Ben und nickte. Das französische Wort corbeau bedeutete Rabe. Trotz seines ultramodernen, beinahe futuristischen Aussehens entstammte das Haus also mehr oder weniger der gleichen Periode wie das Fulcanelli-Manuskript.
«Warum suchen Sie nach dem
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