Das Fulcanelli-Komplott (German Edition)
Haus des Raben», fragte die Frau neugierig.
Instinktiv griff er auf die Geschichte zurück, die er sich zurechtgelegt hatte. «Ich führe einige historische Recherchen durch. Das Haus ist in einigen alten Dokumenten erwähnt, und weil ich in der Gegend war, dachte ich, ich mache einen Abstecher und sehe es mir an.»
«Möchten Sie, dass ich Sie herumführe?», bot sie an. «Ich bin zwar vor ein paar Jahren erblindet, aber in meinen Gedanken sehe ich das Haus immer noch so klar und deutlich wie eh und je.»
Sie führte ihn, mit dem Stock um sich tastend, von Zimmer zu Zimmer und wies ihn auf die diversen Besonderheiten des Hauses hin. Im Wohnzimmer gab es beispielsweise einen großen und kunstvoll gearbeiteten Kamin. Der Stil stand in grellem Widerspruch zum spärlichen, geradlinigen, beinahe asketischen Design der restlichen Einrichtung. Doch es war nicht die Handwerkskunst und Schönheit, die Bens Aufmerksamkeit weckte, so beeindruckend sie auch waren.
Vielmehr starrte er auf das metallene Kunstwerk über dem Sims, das den gesamten Kamin dominierte.
Es zeigte einen Raben auf einem runden Emblem, genau wie in Fulcanellis Manuskript oder der Kathedrale Notre-Dame. Ben betrachtete genau die Gravurarbeit: die herausgearbeiteten Federn, die gebogenen Klauen, den grausamen Schnabel. Das Auge war eine glitzernde, rubinrote Glasperle und schien ihn böse anzustarren.
«Ist das hier auch original?», fragte Ben. «Der Kamin, meine ich», fügte er hinzu, als ihm einfiel, dass sie blind war.
«O ja, selbstverständlich. Er wurde von Corbu persönlich geschaffen. Tatsächlich hat er zu Beginn seiner Karriere eine Ausbildung zum Graveur und Ziseleur gemacht, bevor er zur Architektur wechselte.»
Unter dem Raben standen in gotischer, vergoldeter Schrift die Worte HIC DOMUS . « Hic … hier», übersetzte Ben leise. «Hier das Haus … Dies ist das Haus … Dies ist das Haus des Raben …»
Doch wohin führte das alles? Warum hatte Fulcanelli das Haus auf die «Karte» gesetzt? Es musste einen Grund dafür geben. Aber welchen?
Während er sich das Hirn nach einem Zusammenhang zermarterte, schaute er sich im Raum um. Sein Blick blieb an einem Gemälde an der gegenüberliegenden Wand hängen. Es zeigte einen alten Mann in einer mittelalterlichen Montur. In einer Hand hielt der Mann einen großen Schlüssel, in der anderen einen runden Schild oder vielleicht auch einen Teller, der eigenartig leer erschien – beinahe so, als hätte der Künstler das Gemälde nie vollendet. Der alte Mann lächelte geheimnisvoll.
«Sie haben mir noch gar nicht gesagt, wie Sie heißen, Monsieur», erinnerte ihn die blinde Frau.
Er nannte seinen Namen.
«Sie sind Engländer? Es war nett, Sie kennenzulernen, Ben. Mein Name ist Antonia.» Sie zögerte. «Ich muss Sie leider bitten, jetzt zu gehen. Ich möchte nämlich meinen Sohn in Nizza für einige Tage besuchen, und das Taxi ist sicher bald hier.»
«Danke sehr für die Führung», sagte Ben und biss sich auf die Lippe, um sich seine Frustration nicht anmerken zu lassen.
Antonia lächelte ihn an. «Ich freue mich, dass es Ihnen gefallen hat. Und ich hoffe, Sie finden, wonach Sie suchen, Ben.»
Kapitel 60
Er saß zwischen Bäumen, blickte hinab auf das Tal sowie das Le-Corbusier-Haus und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Die Abenddämmerung zog rasch herauf, und der Wind gewann an Stärke. Es war schwül und stickig. Zwischen den Baumwipfeln hindurch sah er schwarze Wolken aufziehen. Ein Gewitter stand bevor.
Antonias letzte Bemerkung erschien ihm recht eigenartig, irgendwie aus der Luft gegriffen. Ich hoffe, Sie finden, wonach Sie suchen. Er hatte ihr gesagt, dass er nach dem Haus des Raben suchte; das war alles. Aus ihrer Sicht hatte er also bereits gefunden, was er gesucht hatte. Abgesehen davon war ihre Betonung des Wortes «suchen» so merkwürdig gewesen – viel zu stark in Verbindung mit jemandem, der nur ein altes Haus ansehen wollte, das er auf einer Karte gefunden hatte.
Vielleicht bildete er sich das auch alles nur ein.
Oder wusste die blinde Frau mehr, als sie durchblicken ließ? Gab das Haus vielleicht doch noch mehr her? Falls nicht, war er am Ende angelangt. Von hier aus führte keine Spur weiter.
In der Ferne ertönte ein erstes Donnergrollen. Ein einzelner, schwerer Regentropfen platschte auf seine Hand. Bald folgte noch einer, dann noch einer.
Der Regen prasselte bereits in Strömen hernieder, als unten Scheinwerfer auftauchten und sich langsam über den
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