Das Fulcanelli-Komplott (German Edition)
wirklich dankbar für alles, was Sie für mich getan haben. Aber ich will keine Predigten mehr hören. Dieser Teil von mir ist vor langer Zeit gestorben. Bei allem Respekt für Sie, Pater, doch wenn Sie hergekommen sind, um mir eine Predigt zu halten, dann verschwenden Sie Ihre Zeit.»
Sie saßen schweigend da.
«Wer ist Ruth?», fragte der Geistliche unvermittelt.
Ben sah ihn scharf an. «Hat Roberta Ihnen das nicht erzählt? Das kleine Mädchen, das im Sterben liegt. Die Enkeltochter meines Klienten. Das Kind, das ich zu retten versuche. Wenn es nicht schon verdammt nochmal zu spät dazu ist.»
«Nein, Ben, diese Ruth meine ich nicht. Wer ist die andere Ruth? Die Ruth aus deinen Träumen?»
Ben spürte, wie sein Blut kalt wurde und sein Puls schneller ging. «Ich weiß nicht, wovon Sie reden, Pater», antwortete er mit zugeschnürter Kehle. «Es gibt keine Ruth in meinen Träumen.»
«Wenn ein Mann zwei Nächte lang bei einem fiebernden Patienten sitzt, dann findet er womöglich Dinge über ihn heraus, über die man nicht offen spricht», sagte der Priester. «Du hast ein Geheimnis, Ben. Wer ist Ruth? Wer war Ruth?»
Ben stieß einen tiefen Seufzer aus und hob den Flachmann an die Lippen.
«Warum willst du dir nicht von mir helfen lassen?», fragte der Priester sanft. «Komm, mein Sohn. Teil deine Bürde mit mir.»
Nach langem Zögern begann Ben mit leiser Stimme zu reden – abgehackt und monoton. Seine Augen starrten ins Leere, während er zum millionsten Mal die vertrauten, schmerzvollen Bilder vor seinem geistigen Auge abspulte.
«Ich war sechzehn. Sie war meine Schwester. Sie war erst neun … Wir standen uns so nah … Wir waren Seelenverwandte. Sie war der einzige Mensch, den ich jemals aus ganzem Herzen geliebt habe.» Er lächelte bitter. «Sie war wie der Sonnenschein, Pater. Sie hätten sie sehen sollen. Für mich war sie der Grund, an den Schöpfer zu glauben. Es mag Sie überraschen, aber es gab einmal eine Zeit, da wollte ich Priester werden.»
Pascal Cambriel lauschte aufmerksam. «Sprich weiter, mein Sohn.»
«Meine Eltern flogen mit uns in den Urlaub, nach Marokko», fuhr Ben fort. «Wir wohnten in einem großen Hotel. Eines Tages beschlossen meine Eltern, ein Museum zu besuchen. Sie ließen uns im Hotel zurück. Sie sagten zu mir, dass ich auf Ruth aufpassen und das Hotelgrundstück unter keinen Umständen verlassen sollte.» Er hielt inne, um seine letzte Zigarette anzustecken. «Eine Schweizer Familie wohnte im selben Hotel. Sie hatte eine Tochter, ungefähr ein Jahr älter als ich. Ihr Name war Martina.» Obwohl er zum ersten Mal seit Jahren darüber redete, konnte er sich an alles genau erinnern. Er sah Martinas Gesicht vor sich. «Sie war sehr schön. Ich mochte sie von Anfang an, und sie fragte mich, ob ich Lust hätte, mit ihr auszugehen. Sie wollte einen Souk besuchen, ohne dass ihre Eltern dabei waren. Zuerst sagte ich nein – ich müsste im Hotel bleiben und auf meine Schwester aufpassen. Doch Martina flog am nächsten Tag nach Hause, zurück in die Schweiz. Und sie sagte zu mir, wenn ich mitginge, würde sie, sobald wir zurück wären … Na ja. Die Versuchung war da. Ich überlegte, dass ich Ruth ja mitnehmen konnte und dass meine Eltern es nie erfahren würden.»
«Sprich weiter, mein Sohn», ermutigte ihn der Priester.
«Wir verließen das Hotel. Wir wanderten über den Markt. Es war voll, überall Stände, Schlangenbeschwörer, all diese seltsamen Dinge und die Musik und die Gerüche.»
Pascal Cambriel nickte. «Ich war vor vielen Jahren im Krieg, in Algerien. Es ist eine fremdartige, unverständliche Welt für uns Europäer.»
«Es war jedenfalls großartig», fuhr Ben fort. «Ich war gerne in Martinas Gesellschaft, und sie hielt meine Hand, während wir uns alle Stände ansahen. Trotzdem behielt ich Ruth ununterbrochen im Auge. Sie blieb die ganze Zeit direkt neben mir. Dann entdeckte Martina ein silbernes Schmuckkästchen, das ihr gefiel. Sie hatte nicht genug Geld, und ich sagte, ich würde es ihr kaufen. Ich drehte Ruth den Rücken zu, während ich das Geld abzählte. Nur für einen kurzen Augenblick. Ich bezahlte das Geschenk für Martina, und sie umarmte mich.» Er stockte erneut. Sein Hals war trocken. Er wollte erneut aus dem Flachmann trinken.
Der Geistliche hielt seinen Arm fest, sanft, doch entschieden. «Wir wollen diesen trügerischen Freund für einen Moment außen vor lassen.»
Ben nickte und schluckte mühsam. «Ich weiß nicht, wie es so
Weitere Kostenlose Bücher