Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Gebot der Rache

Das Gebot der Rache

Titel: Das Gebot der Rache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Niven
Vom Netzwerk:
Herby?« Ich ließ mein Buch, in dem ich ohnehin nicht gelesen hatte, auf die Brust sinken und räusperte mich. Ich konnte es ihr nicht sagen – nicht so, wie ich es gerne getan hätte. Ich bin Donald Miller.
    »Ich habe heute noch eine schlechte Nachricht erhalten«, sagte ich, ohne sie dabei anzusehen.
    »Was?«
    »Mein ehemaliger Tutor, damals auf der Uni … ich habe im Internet gelesen, dass er vor über einem Jahr verstorben ist.«
    »Das tut mir leid, Donnie. Hast du ihn gut gekannt?«
    »Ich hatte seit Jahren keinen Kontakt mehr zu ihm. Aber damals, da … er war ein guter Lehrer. Ich habe schon länger nicht mehr an ihn gedacht, und heute habe ich seinen Namen gegoogelt.«
    »Warum das?«
    Meine Kindheit. Die blutigen Orgelpfeifen im Brustkorb des Hundes.
    »Nichts Bestimmtes. Bloß so ein flüchtiger Gedanke.«
    »Was für eine Woche«, seufzte Sammy und legte den Kopf auf meine Brust, ihr Haar weich unter meinem Kinn. Ich streichelte ihren Arm.
    »Allerdings.«
    »Wie ist er gestorben?«, fragte Sammy, ganz Journalistin. Wer? Wo? Wie? Warum?
    »Er war alt«, antwortete ich.
    Ich lag lange Zeit wach. Zum ersten Mal, seit wir hier lebten, wurde unser Glück bedroht. Und das wirklich Beunruhigende daran war, dass ich das dumpfe Gefühl hatte, als hätte ich so etwas … erwartet. Nicht genau das, was geschehen war, aber etwas in der Art. Als hätte ich unterschwellig ständig mit dem Schlimmsten gerechnet, weil ich wusste: Mein Glück war nur erschlichen, und früher oder später musste der Schwindel auffliegen. Du hast das große Los gezogen. Den Sechser im Lotto. Hast du wirklich geglaubt, das würde immer so weitergehen? Dass das Karma so etwas zulassen würde? Aber du glaubst ja nicht an Karma. Greise Nazi-Kriegsverbrecher liegen in Südamerika an ihren Swimmingpools, während anderswo Babys von Lastwagen überrollt werden. Nichts als wirre nächtliche Gedanken, allein der Übermüdung geschuldet. Eine totale Überreaktion auf den Tod eines Haustiers, das von einem Wolf gerissen wurde. Was hast du denn erwartet, als du hier raus in die Wildnis gezogen bist? Ich verkroch mich so tief wie möglich im Bett, schmiegte mich ganz dicht an Sammy und spürte die Wärme ihres Körpers, das sanfte Auf und Ab ihres Atems. Ich hielt ihre Hand, während sie schlief, und ihr korallenroter Nagellack schien im Mondlicht zu leuchten.
    Eine Stunde verging. Unruhig wälzte ich mich hin und her. Egal auf welcher Seite ich lag, immer spürte ich mein Herz gegen das Laken hämmern, hörte es in meiner Brust. Ich stand auf und ging in die Küche. Obwohl mir eigentlich viel mehr nach einem Glas Whisky war, machte ich mir einen Kamillentee, setzte mich an den großen Eichentisch und blickte hinaus in die schwarze, frostklirrende Nacht.
    Dort draußen war nichts als Wind, Schnee und Dunkelheit.
    Und die Angst.
    Wölfe im Wald.
    * * *
    Heutzutage nennt man das wohl Trinkkultur. Damals soff man. Jeder soff. Einmal an Heiligabend hatte mein Dad sich ordentlich die Kante gegeben. Als er in den frühen Morgenstunden des ersten Weihnachtstages nach Hause kam, torkelte er ins Wohnzimmer, wo meine Mutter die hübsch verpackten Geschenke aufgestellt hatte, verspürte Lust auf »’ne Kleinigkeit zum Naschen« und durchwühlte die Geschenke nach einer Selection Box – einer Geschenkpackung mit verschiedenen Schokoriegeln, die in der Weihnachtstüte schottischer Kinder unentbehrlich ist. (Manchmal versuche ich mir Sammys Gesicht vorzustellen, wenn sie dabei zusehen müsste, wie Walt jene Massen von Süßkram verdrückt, die damals den Großteil unseres Speiseplans ausmachten.) Ein paar Stunden später kamen wir nach unten und fanden ihn besinnungslos unter dem Weihnachtsbaum. Sein Gesicht war mit Schokolade verschmiert, und überall um ihn herum lagen ausgepackte Geschenke. Ich fing an zu weinen. Meine Mutter trat auf meinen Vater ein, um ihn zu wecken, und die beiden brüllten einander an, während ich heulend nach oben lief.
    Und an Silvester, auf einer Party der Nachbarn, war die ganze Episode schon zur komischen Anekdote geworden. Mein Dad, der »sternhagelvoll« über die Süßigkeiten der Kleinen hergefallen war. »Hahaha, das gibt’s doch nicht, so was bringt auch nur der fertig!«, belustigte sich die Partygesellschaft. Meine Mutter, ebenfalls betrunken, blickte ihn längst wieder liebevoll an, wie er das nachsichtige Gelächter seiner Kumpels mit einem verharmlosenden Schulterzucken quittierte. »Sternhagelvoll«, »blau«,

Weitere Kostenlose Bücher