Das Gebot der Rache
bevor es noch stärker zu schneien anfängt.«
»Na gut, ich … hallo, Graham«, grüßte sie einen vorbeigehenen Smokingträger. »Ich sehe dich dann morgen. Sag Walt, ich hab ihn lieb.«
»Klar doch.« Ich hauchte ihr einen vorsichtigen Kuss auf die Wange. Sammy mochte öffentliche Zuneigungsbekundungen nicht besonders.
»Fahr vorsichtig.« Sie drehte sich um und ging zurück zum Kamin. Ich blickte ihr nach und beobachtete, wie sie mit einer zackigen Handbewegung einen der Spaghettiträger ihres Kleides zurechtzog. Egal was Sammy tat, immer blitzte die Sportskanone durch, immer hatten ihre Gesten etwas leicht Burschikoses.
Ich holte meinen Mantel, ließ meinen Wagen vorfahren, stieg ein und drehte die Heizung voll auf, während ich die Zufahrt hinabrollte. Schneeflocken trudelten durch die Scheinwerferkegel. Mir ging ein Lied durch den Kopf, das damals in Schottland sehr populär gewesen war. »Mouth is alive, with juices like wine … and I’m hungry like the wolf.« Das große edwardianische Anwesen verschwand hinter mir, seine vielen Fenster leuchteten im Rückspiegel.
12
Das Haus, in dem ich aufwuchs: trister Nachkriegs-Rauputz, nikotingelbe Styroporplatten unter den Zimmerdecken, Raufasertapeten. Der Kaminsims voller Nippes, Flitter und billigem Zierrat wie dem Clown aus buntem Glas, dem Porzellanpferdchen, dem weißen Aschenbecher, auf dem in goldenen Lettern Blackpool Tower stand. Der klobige Fernseher mit dem Plastikgehäuse in Holzoptik, das elektrische Kaminfeuer mit der künstlichen Glut. An Winterabenden, wenn es bereits um halb fünf stockdunkel war, verbreitete es ein warmes orangefarbenes Licht. Dann lag ich mit brennendem Gesicht und eiskaltem Rücken auf dem Teppich und schaute mir Roobarb oder Wir haben Spaß an. Gefrorene Kondenswasser-Pfützen auf den Fensterbänken.
Meine Eltern tranken beide. Mein Dad ganz unverhohlen, meine Mutter eher heimlich. Mein Vater arbeitete im Holzlager. Wenn die Arbeit nachmittags um vier vorbei war, ging er ins King’s oder ins Delta. Nach zwei Stunden im Pub und fünf oder sechs Pints kam er zum Abendessen nach Hause. Vor dem Fernseher soff er eine Dose Tennent’s nach der anderen, bis er gegen zehn aus den Latschen kippte. In der Zeit, bis mein Vater aus dem Pub nach Hause kam, hangelte sich meine Mutter von Martini zu Martini. Die bestanden bei ihr nur aus süßem Wermut mit Limonade, nicht vergleichbar mit jenen Martinis, die ich in meinem späteren Leben mit Sammy kennenlernen sollte – eisgekühlte Stielgläser, glasklarer Gin, Olive. Sie begann gegen Nachmittag, versteckte die Flasche in der Speisekammer und schlürfte die Drinks in der Küche, während sie über der Bratpfanne und kochenden Kartoffeln schwitzte. Zum Abendessen hatte sie oft schon die halbe Flasche geleert, und das Essen war angebrannt oder kalt, woraufhin der Streit losging. Eines Abends kippte sie meinem Dad, torkelnd und schwankend, versehentlich den Teller in den Schoß und bespritzte ihn mit heißem Fett. Er zerschmetterte das Geschirr an der Wand, schlug sie in den Magen und brüllte: »Du versoffene, blöde Schlampe, du!«, während ich heulend in mein Zimmer rannte. Später kam sie nach oben, noch betrunkener, und erzählte mir, sie hätten bloß einen »klitzekleinen Streit« gehabt und dass alles in Ordnung sei. Ich bekam gelegentlich eine Ohrfeige oder einen Tritt in den Hintern, aber ich wurde nie richtig verprügelt. Zumindest nicht so, wie Banny verprügelt wurde. 1981, als das Holzlager geschlossen wurde, verlor mein Dad seine Arbeitsstelle, wie damals viele andere in Ayrshire (»Diese blöde Fotze von Thatcher«). In diesem letzten Jahr, das ich zu Hause verbrachte, wurde dort immer heftiger gestritten und gesoffen. Meine Mutter nahm eine Halbtagsstelle als Putzfrau in einem Bürohaus an, mein Dad ging ins Wettbüro oder jobbte gelegentlich als Tagelöhner auf dem Bau. Seine Besuche im Delta oder King’s begannen nun bereits um zwei oder drei Uhr.
Inzwischen habe ich erkannt, dass meine Eltern ihren Frust aneinander ausließen und sich wahrscheinlich gegenseitig für ihr verkorkstes Leben verantwortlich machten. Sie hatten keinerlei gemeinsame Interessen, genau genommen hatten sie überhaupt keine Interessen. Da gab es nichts außer dem niemals endenden Flimmern des Fernsehers, der dicken Dunstglocke aus Zigarettenrauch, der ab und an vom Aufreißen einer Bierdose durchbrochenen Stille oder einer bemühten Unterhaltung über irgendeinen Zeitungsartikel. Später,
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