Das Gebot der Rache
ihrem nippte.
»Zum Wohl«, sagte ich und prostete ihr zu.
»Prost«, sekundierte Irene und hob ihr Zuckerwasser. Schon im Verlauf des letzten Jahres war mir bei verschiedenen Gelegenheiten aufgefallen – etwa wenn Irene dann und wann mal zum Grillen oder zum Essen herüberkam –, dass sie niemals Alkohol trank. Aber ich hatte sie nie konkret darauf angesprochen.
»Haben Sie nie getrunken, Irene?«
»Oh, ich hab’s natürlich probiert. Macon? Meine Heimatstadt? Das ist tiefstes Schwarzbrenner-Land. Noch vor ein paar Generationen hatte dort jeder einen Destillierapparat im Garten stehen. Bei mir zu Hause hat jeder getrunken.«
»Sie allerdings nicht.«
»Na ja, die Kontrolle zu verlieren hat mir immer schon Unbehagen bereitet. Sobald mir schwindelig wurde, dachte ich: Jetzt reicht’s. Und weil mir das jedes Mal nach einem Drink so ging, lohnte es sich gar nicht erst anzufangen.«
»Ich wette, bei Ihren Freunden waren Sie äußerst beliebt.«
»Bitte was?«
»Na, so hatten sie ständig einen Fahrer zur Hand.«
»O ja. Das war immer meine Aufgabe.«
Ich nahm einen großen Schluck von meinem Drink, blickte hinauf zu den Holzbalken an der Decke hoch über mir und hob das Glas bis knapp unter mein Kinn, um das kräftige Bouquet zu genießen.
»Erinnert er Sie an zu Hause?«, wollte Irene wissen.
Jetzt war es an mir, »Bitte was?« zu fragen.
»Der Whisky?«
O ja, klar. Eine Fünfzig-Dollar-Flasche Single Malt, die war in meinem Elternhaus immer zur Hand. Welche Whiskysorten mein Vater getrunken hatte? Halb- und Viertelliter-Flaschen Bell’s oder Whyte & Mackay. Hin und wieder mal eine Literflasche der Supermarkt-Hausmarke.
Ich nahm einen weiteren tiefen Schluck. Der Alkohol entfaltete nun seine Wirkung. Ich entspannte mich, die Anspannung der Heimfahrt und der letzten paar Tage schmolz dahin.
»Sie reden nicht oft über Ihre Heimat, Donnie, stimmt’s?«
»Nein. Wohl eher nicht.«
»Und dabei heißt es doch immer, die Schotten seien so patriotisch. Dass sie ständig erzählen, wie großartig ihr schönes, altes Land sei.«
»Vermutlich tun sie das auch. Ich schätze, da ich einfach noch sehr jung war, als ich von dort weg bin, und praktisch keine Familie mehr da drüben habe …«
»Das klingt sehr traurig.«
»Ach, nein. Um ehrlich zu sein, verschwende ich nicht allzu viele Gedanken daran.« Was bis vor Kurzem auch der Wahrheit entsprochen hatte.
»Sie haben hier ja jetzt Ihre eigene kleine Familie.«
»Und den erweiterten Familienkreis«, sagte ich und deutete auf meinen Smoking. »So nervig der auch manchmal sein kann.« Irene lachte. Eine Pause trat ein. Ich beobachtete das kräftige Schneetreiben durch das Fenster hinter ihr. Da war noch eine Frage, die ich ihr nie gestellt hatte. Nun verlieh der Whisky mir den Mut dazu. »Dürfte ich Sie fragen, und bitte nehmen Sie mir meine Indiskretion nicht übel, wie es kommt, dass Sie selbst niemals Kinder hatten?«
»Es sollte nicht sein.« Sie zuckte mit den Schultern. »Nicht, dass Jim und ich es nicht gewollt hätten. Es hat bloß nie geklappt.«
»Das tut mir leid«, sagte ich, berührt von der Aufrichtigkeit ihrer Antwort. Sie winkte ab.
»Oh, das ist alles so lange her. Ich schätze, heutzutage würden wir von einer Befruchtungsklinik zur nächsten tingeln, und wer weiß, was dabei rauskäme. Aber damals, in den Siebzigern, Anfang der Achtziger, haben die Menschen wohl eher akzeptiert, was die Natur ihnen mitgegeben hat.«
»Sie sind wirklich gut im Umgang mit Walt, wissen Sie das?«
»Oh, er ist einfach ein lieber Junge.«
»Mmm. Wenn ihm danach ist.« Ich warf einen Blick auf meine Uhr. »Ach je, wo wir gerade davon sprechen, der kleine Teufel wird schon bald wieder aufstehen.«
»Oha, ich sollte auch längst im Bett sein.« Sie stellte das halb ausgetrunkene Glas Ginger Ale auf einen Untersetzer auf dem Beistelltisch.
»Danke noch mal fürs Babysitten.«
»Jederzeit wieder, Donnie.«
Ich brachte sie zur Tür und ging dann den Korridor hinunter, um nach Walt zu sehen. Vor seinem Zimmer hielt ich kurz inne, blickte durchs Fenster und sah die Rücklichter von Irenes Wagen im Schneetreiben verschwinden. Völlig unerwartet überkamen mich ein Anflug von Traurigkeit und ein gewisser Beschützerinstinkt, wie sie da so allein in ihr dunkles, gemietetes Haus fuhr. Ich würde mit Sammy reden und ihr vorschlagen, Irene öfter mal zum Essen einzuladen. Vielleicht gab es ja jemanden, mit dem wir sie bekannt machen konnten – einen Freund von
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