Das Gebot der Rache
Büchern (Krankenpflege, Folter) über der Schulter, fuhrst du wieder mit der Bahn nach Glasgow. Vom Hauptbahnhof gingst du über die Jamaica Street am Fluss entlang über die Brücke zum Gericht. Von einer Bank aus konntest du beobachten, wer das Gebäude betrat und verließ: Anwälte, Polizeibeamte, Angeklagte und deren Angehörige – erbärmlich anzusehen in ihren ungepflegten, verknitterten Sportswear-Klamotten, verloren im Qualm hastig gerauchter Zigaretten.
Fast zwei Jahre lang lagst du auf der Lauer, mit deinen Büchern auf den Knien.
Deinen Körper wieder auf Vordermann zu bringen, war sehr viel einfacher gewesen, als deinen Verstand wieder hinzukriegen. Durch das Trinken hattest du zwanzig Kilo zugenommen, einen fetten Bauch und einen schlaffen Hintern. Deine Lunge war von unzähligen Päckchen Embassy Regal ramponiert – der Marke, die Stephen vor Jahren mal geraucht hatte. Die ersten Joggingversuche waren der reinste Witz gewesen. Du schafftest gerade mal vier- oder fünfhundert Meter, bevor du keuchend und schluchzend zusammenbrachst. Aber du hattest nicht aufgegeben und es jeden Tag ein wenig weiter geschafft. Offenbar besaßt du wirklich ein suchtgefährdetes Wesen, denn du hattest dich recht schnell auf drei, dann vier, dann sechs Meilen am Tag gesteigert. Von deiner Wohnung aus liefst du die ganze Harbour Street bis zur Küste runter, dann nach rechts über den festen, feuchten Sand an der Brandung entlang bis nach Barassie und zurück. Jeden Tag drei Meilen über den Strand. Der Wind peitschte dir ins Gesicht, Gischt und Schweiß brannten dir in den Augen. Du wurdest zappelig und gereizt, wenn du morgens um sieben noch nicht auf dem Weg zum Strand warst. An manchen Tagen liefst du sogar zweimal, einmal morgens und einmal gegen sechs Uhr abends. Immer dann, wenn dich diese innere Unruhe überkam. Wenn du in der Wohnung auf und ab liefst, in den Kühlschrank sahst und wusstest, dass dein Körper nach einem Drink verlangte, wieder in seine alten Gewohnheiten verfallen wollte.
Dein Übergewicht schmolz dahin, und du konntest spüren, wie deine Kraft und deine Gelenkigkeit allmählich zurückkehrten.
In der Stadt war gerade das erste Fitnessstudio eröffnet worden, und du hattest damit begonnen, Gewichte zu stemmen, dich auf der Rudermaschine zu quälen, deine Bauch-, Brust- und Oberschenkelmuskeln zu trainieren. Deine Arme und dein Oberkörper wurden kräftiger und kräftiger, bis du dich an den Tauen im Fitnesscenter mit Leichtigkeit bis zur Decke hangeln konntest. Dort oben, zehn Meter über dem Boden, wenn dein Kopf an die Decke stieß und dein Bizeps sich spannte, warst du zufrieden. Dir gefiel die Tatsache, dass du am Leben warst und das Seil hinaufklettern konntest, dass du über ihm throntest, statt an seinem unteren Ende zu baumeln.
Du hattest dich bei einem Taekwondo-Kurs im Vergnügungszentrum angemeldet, dem Magnum, wo du mit Craig ein-, zweimal eislaufen warst. Damals hatte es dir vor der Eisbahn gegraut. Vor all den bösartigen, finster dreinblickenden Jungs, die dort herumflitzten. Vor der Vorstellung, Craig könnte dort hinfallen, seine Finger auf dem nassen Eis gespreizt, während die scharfen Kufen auf ihn zurasten. Und dir war ein Stein vom Herzen gefallen, als er gesagt hatte, dass es ihm dort nicht gefiele und er nicht mehr hingehen wolle. In deinem Selbstverteidigungskurs brachte man dir die verschiedenen Schlag- und Abwehr-, aber vor allem die besonders effektiven Tritt-Techniken bei. Dein Lehrer Keith nannte dich ein Naturtalent.
Bis dahin hättest du nicht wirklich sagen können, wofür du das alles tatest. Du wolltest einfach nur vorbereitet sein.
Dann hattest du einen Abendkurs belegt: Grundwissen in Erster Hilfe. Du wurdest im Behandeln von Traumata und in lebenserhaltenden Maßnahmen geschult.
Du warst dem Schützenverein beigetreten. Hattest auf dem Schießstand des Freizeitzentrums bäuchlings auf einer Matte gelegen und mit dem alten Repetiergewehr des Klubs Salve um Salve abgefeuert. Hattest dir das nötigste Wissen über modernere Schusswaffen angeeignet. Du warst dir nicht sicher, welche Fähigkeiten du benötigen würdest, falls der Tag jemals kommen sollte.
Im Spätherbst 2004 war es dann endlich so weit. Du hattest kalte Ohren, ein Tautropfen hing an deiner Nasenspitze, und der Wind wirbelte tote Blätter durch die Luft, als der silberhaarige Mann von den Fotos im Gespräch mit zwei Polizisten die Treppen des Gerichts herunterkam. Sie gingen ganz nah an
Weitere Kostenlose Bücher