Das Gebot der Rache
die Nase geatmet. Es gab keinen Hinweis auf eine Verbindung zwischen diesem Mann und dem Jungen auf dem Zeitungstitel von vor fast dreißig Jahren. Es war gut möglich, dass es sich hier um einen völlig anderen Donald Miller handelte. Aber du wusstest Bescheid. Du hattest es im Blut und in den Knochen, dass er es war.
Auf einer Bank im Stadtzentrum, gegenüber der Redaktion des Advertiser , hattest du von nun an jeden Tag dein Sandwich gegessen und dein Buch gelesen, bis du nach einer Woche beobachten konntest, wie der Mann auf dem Foto das Gebäude verließ und mit einer attraktiven, gut gekleideten Frau sprach, die vermutlich ein klein wenig älter war als er. Sie standen neben einem Kirschbaum in der Sonne und unterhielten sich. Du warst quer über den Platz geschlendert und so nah an ihnen vorbeigegangen, dass du ihre Stimmen hören konntest. Es gab keinen Zweifel. Er hatte zwar an seinem Akzent gearbeitet, aber es war immer noch da, klar und vernehmlich: das rollende Ayrshire-»R«.
Dein neuer Tagesablauf bestand im Grunde aus den gleichen Routinen, die du dir schon während deiner Tage in Glasgow mit dem liebenswürdigen Mr. Cardew zu eigen gemacht hattest.
Beobachten. Warten. Planen.
Wie fassungslos du angesichts seiner Lebensumstände warst: das riesige Haus aus Glas und Holz mit seinem Pool und den Nebengebäuden, dem SUV in der Auffahrt und der Solaranlage auf dem Dach. Die Familienausflüge zu jenem Anwesen, das, wie du bald herausfinden solltest, seinen Schwiegereltern gehörte. Und dann diese Freude, diese unvergleichliche Freude, als du zum ersten Mal den Jungen sahst, seinen Sohn, wie er ausgelassen auf der Sonnenterrasse herumturnte. Du hattest auf einem Hügelrücken etwa eine halbe Meile entfernt geparkt, ausgerüstet mit einem sehr starken Fernglas und einer Karte, die du auf dem Autodach ausgebreitet hattest, quasi als Ausrede für den Fall, dass neugierige Passanten unbequeme Fragen stellen sollten.
Die ganze Zeit über hattest du dich gefragt, was du eigentlich mit ihm anstellen würdest. Wäre er alleinstehend gewesen, hättest du ihn sehr wahrscheinlich einfach entführt, so lange gefoltert, wie du ihn am Leben halten konntest, und schließlich getötet. Jetzt, als dir bewusst war, was er alles zu verlieren hatte, bot sich ein völlig anderer Plan an.
Nimm ihm alles, was ihm lieb und teuer ist.
Lass ihn dabei zusehen.
Lass ihn am Leben.
Das Schicksal sollte noch einen letzten Gefallen für dich in petto haben – eine einmalige Gelegenheit, direkt vor deiner Nase, die dir allerdings in deinem blinden Eifer lange Zeit nicht auffiel. Erst als du eines Tages während einer deiner zahlreichen Ausflüge nach links in die Zufahrt eines Farmhauses geschaut hattest, das knapp eine halbe Meile vom Ziel entfernt lag und seinen Bewohner damit faktisch zum nächsten Nachbarn der Millers machte, war dir zum ersten Mal das gelb-rote Maklerschild ins Auge gefallen.
ZU VERKAUFEN.
Du warst so schnell nach Regina zurückgefahren, dass du zweimal fast einen Unfall gebaut hättest. Schon während dieser Fahrt hattest du dir deine Geschichte zurechtgelegt. Der Georgia-Dialekt ging dir leicht von der Zunge. Schon damals, in einem anderen Leben, als ihr im Kulturzentrum von Ardgirvan Endstation Sehnsucht aufgeführt hattet, wurdest du dafür mit Komplimenten überschüttet. Du warst dir sicher, dass du ihn über lange Strecken einer Unterhaltung durchhalten könntest, ohne dich zu verraten. Um ganz sicherzugehen, würdest du üben.
Du warst im Ruhestand. Dein Mann war kürzlich verstorben. Du wolltest Landschaften malen – die Aussicht war ideal dafür. Nein, es störte dich nicht, dass das Haus ein wenig heruntergekommen war. Das störte dich überhaupt nicht. Als du gefragt hattest, ob es möglich sei, einen Jahresvertrag mit Option auf Verlängerung abzuschließen und die Miete für das erste Jahr im Voraus zu zahlen, war der Makler fast aus den Latschen gekippt und sofort losgerannt, um die Schlüssel zu holen und dich herumzuführen.
Dir war richtiggehend übel vor lauter Nervosität, als du an jenem Samstagmorgen zum ersten Mal zu den Millers hinübergingst. Ob dein Akzent dich verraten würde? War es möglich, dass er dich erkannte? Selbst nach fast dreißig Jahren, mit zehn Kilo mehr auf den Rippen und trotz einer anderen Haarfarbe? Letztendlich war es seine Frau, die dir öffnete, um die selbst gemachte Marmelade entgegenzunehmen. Bei frisch aufgebrühtem Kaffee gabst du in der riesengroßen,
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