Das Gebot der Rache
Totenstille, als ich die Waffe entsicherte und sah, wie sie augenblicklich erstarrte.
»Legen Sie die Waffe weg«, hörte ich mich sagen.
Sie hob die Hände, Handflächen nach außen, die Finger von der Waffe abgespreizt. »Auf den Boden damit.«
»Nicht schießen, William, ich leere das Magazin.« Mit einer Hand ließ sie die Trommel des Revolvers herausschnappen. Ich hörte die Patronen zu Boden klackern und über das Parkett rollen. »Ich werde mich jetzt setzen«, sagte sie, »ich fühle mich etwas schwach.«
Ich stand auf, als sie sich auf die Sofakante hockte. Sie hatte die linke Seite ihres Gesichts bandagiert. Ihr Haar war übel versengt. »Wie sehe ich aus?«, fragte sie seelenruhig und blickte mich erwartungsvoll an. Ich hielt weiterhin die Waffe auf sie gerichtet, mit links auf eine Stuhllehne gestützt, da meine Beine unter mir wegzusacken drohten. Wie geistesabwesend summte sie nun ein Lied vor sich hin. »Kann sein, dass ich etwas konfus werde«, sagte sie. »Ich habe ein paar von den Vicodin-Tabletten deiner Frau geschluckt, falls du verstehst. Gegen die Schmerzen. Ich habe seit Jahren keine verschreibungspflichtigen Medikamente mehr genommen. Mir scheint, sie sind ziemlich stark.«
»Walt?«, rief ich den Flur hinunter.
»Daddy!«
»Alles in Ordnung! Bleib bitte, wo du bist.«
»Ah. Ganz der gute Vater«, sagte sie.
»Wie konnten Sie ihnen das nur antun? Sammy … und Walt … Sie kannten sie …«
»Du kanntest Craig.«
» ICH WAR NUR EIN KIND! «
Sie ließ meinen Schrei verhallen. »Du wirst diese Momente für den Rest deines Lebens vor Augen haben. Du wirst sie nie wieder aus dem Kopf kriegen. Aber ich frage mich, was schlimmer ist: genau zu wissen, was passiert ist, oder dir Nacht für Nacht dein eigenes Schreckensszenario auszumalen? Ich habe nie genau herausfinden können, was Craig zugestoßen ist. Ich musste es mir vorstellen … Es jede Nacht von Neuem durchspielen. Und darüber, William, wird man allmählich wahnsinnig!«
»Wie haben Sie mich nach so langer Zeit gefunden?«
»Du erinnerst dich doch an Mr. Cardew, oder?«
37
Vor all den Jahren hatte es rund um die Entlassung von Junge C – William Anderson, der inzwischen längst ein junger Mann mit neuem Namen und neuer Identität war – ein ziemliches Rauschen im Blätterwald gegeben. Vom Prozess konntest du dich noch gut an ihn erinnern. Einige Zeitungen hatten versucht, dir eine Stellungnahme zu seiner Entlassung zu entlocken. Aber dafür warst du zu diesem Zeitpunkt viel zu sehr neben der Spur gewesen.
Deine Nachforschungen begannen damit, dass du jeden Tag in die Mitchell-Bibliothek nach Glasgow fuhrst. Immer wenn der leuchtend orangefarbene Zug über die Eisenbahnbrücke mit Blick auf das Wehr ratterte, an dem Craig gestorben war, sprachst du ein Gebet für ihn. Im Lesesaal hattest du am Mikrofiche-Lesegerät gesessen, an dem großen Rad gedreht und jeden Artikel, jedes Foto studiert. Es gab verschiedene Fotos von Andersons Entlassung und den diversen Gefängnisverlegungen: eine Gestalt mit einer Decke über dem Kopf, die aus einem Polizeiwagen stieg und an den Fotografen vorbei in das Gerichtsgebäude geschleust wurde, im Hintergrund der wütende Mob. Eine Person tauchte gleich auf mehreren Fotos auf. Mit einem Ausdruck von Verärgerung im Gesicht musterte der Mann die Meute der Fotografen, die nur darauf wartete, endlich zum Schuss zu kommen.
Stundenlang hattest du sein Gesicht aufmerksam stu diert und dir jede Linie, jede Falte darin gemerkt. Er sah nicht wie ein Polizeibeamter aus. Nach längerer Betrach tung schien seine Miene auch weniger Verärgerung, son dern vielmehr Angst und Besorgnis auszudrücken. Er hatte seinen Arm beschützend um die geduckte Gestalt unter der Decke gelegt. Irgendwann gelangtest du zu der Überzeugung, dass es sich bei ihm um so etwas wie einen Sozialarbeiter handeln musste. Jemand, der Mitleid, viel leicht sogar Verständnis für dieses Monster aufbringen konnte – jenes Monster, das seiner eigenen Aussage zufolge dabei zugesehen hatte, wie sein Freund deinem Sohn eine abgebrochene Angelrute ins Rektum stieß.
Du dachtest nach: Wenn er als Sozialarbeiter an so einem Fall gearbeitet hatte … war es dann möglich, dass er jetzt andere betreute? Wo ließe sich so eine Person finden?
Höchstwahrscheinlich im Umfeld des Gerichtsgebäudes von Glasgow.
2002, an Craigs zwanzigstem Todestag, war es Zeit für deinen neuen Tagesablauf. Einen Leinenbeutel mit Sandwiches, Getränke und
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