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Das Gebot der Rache

Das Gebot der Rache

Titel: Das Gebot der Rache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Niven
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deiner Bank vorbei (auf deinen Knien lag eine Enzyklopädie der mittelalterlichen Folter, aufgeschlagen auf der Seite über das Rädern). So nah, dass du die Stimme des Mannes hören – Arbeiterklasse, aus Glasgow stammend – und sehen konntest, wie er eine Capstan Full Strength ohne Filter aus der Packung zog und sich diese mit einem geübten Streichholzschnipsen ansteckte, seine Finger so gelb wie ein Telefonbuch. Er war gealtert, inzwischen vermutlich Mitte sechzig, aber es bestand kein Zweifel, dass er es war. Er ging zur U-Bahn-Station, und du folgtest ihm.
    Er fuhr bis Cowcaddens, wo er nach einem kurzen Fußweg die Polizeiwache betrat. Durch die Glastür konntest du beobachten, wie er sich eintrug. Es war halb sechs und bereits dunkel, als er die Wache wieder verließ und danach in den Zug nach Rutherglen stieg. Du sahst, wie er in einem Mietshaus in der Nähe des Bahnhofs verschwand. Du hattest dich so nah an die Wohnung im Erdgeschoss herangewagt, bis du das kleine Messingschild an der Tür lesen konntest: P. CARDEW.
    Die ganze Zeit schlug dir das Herz bis zum Hals.
    Tagelang dachtest du darüber nach und sahst dabei allmählich ein, dass du deine Geduld noch weitaus länger würdest strapazieren müssen. Du warst dir sicher, dass dieser Mann Informationen über den Jungen besaß, der dabei geholfen hatte, deinen Sohn zu ermorden. Alles, was du brauchtest, waren ein Name und eine Stadt. Sollte P. Cardew etwas Bedauerliches zustoßen, so war allerdings nicht auszuschließen, dass dies Auswirkungen auf die neue Identität hätte, die man William Anderson gegeben hatte. Doch P. Cardew war alt. Sicher würde er in wenigen Jahren in Rente gehen. Mehr Zeit wäre verstrichen. Das Ganze würde weniger Aufmerksamkeit erregen.
    Letztendlich dauerte es weitere vier Jahre. Du hattest ungeahnte Geduldsreserven entdeckt. Hattest beobachtet, gewartet und ihn studiert. Er lebte allein, war Junggeselle. (Das war gut.) Er rauchte und trank zu viel. (Das war schlecht.) Deine größte Angst war damals, dass er sterben könnte, bevor die Zeit gekommen war. An einem Schlaganfall oder einem Herzinfarkt aufgrund der unzähligen Zigaretten oder der Flasche Whisky, die er sich viermal die Woche im Schnapsladen auf der Highstreet holte. Dann kam der Sommer 2008. Mit einer trostlosen, kleinen Feier in einem Pub in Cowcaddens beging er seine Pensionierung. Einmal hatte er dich sogar angelächelt, als er mit unsicherem Schritt an deinem Tisch vorbei zur Toilette gewankt war.
    Zur Sicherheit wartetest du weitere sechs Monate, in denen du traurig mit ansahst, wie es nach seinem Ruhestand stetig mit ihm bergab ging. Seine Besuche im Pub fanden immer früher statt, das gemeinsame Mittagessen mit seinen ehemaligen Kollegen immer seltener. Bei seinen gelegentlichen Besuchen in der Mitchell-Bibliothek, deinem alten Jagdrevier, wo er im großen Lesesaal saß, hauptsächlich Bücher zur Sozialgeschichte Glasgows schmökernd, sank ihm immer wieder das Kinn auf die Brust. Von den Studenten mit süffisantem Grinsen und Kopfschütteln bedacht, nickte er geräuschvoll ein.
    Schließlich konntest du nicht länger warten. Anfang Mai 2009, fast genau siebenundzwanzig Jahre nach Craigs Tod, hattest du an seiner Tür geklingelt. Durch die dicken Gläser seiner Brille sah er dich freundlich an. Nach dem Geruch aus der traurigen kleinen Wohnung hinter ihm zu urteilen, stand gerade sein Essen auf dem Herd. Er sagte: »Was kann ich für Sie tun, meine Liebe?«
    Du hattest ihm die chemische Keule genau in den Mund gesprüht und ihn rückwärts in den Flur gestoßen.
    Er griff nach seiner Kehle und wollte um Hilfe rufen, aber das Spray schnürte ihm den Hals zu. Das Brennen würde abklingen. Es war wichtig, dass er noch imstande war zu reden. Ohne einen Funken Angst und genau so, wie du es unzählige Male geprobt hattest, schlugst du die Tür hinter ihm zu, tratst ihm die Beine weg, gingst blitzschnell auf die Knie, um ihn abzufangen, damit er nicht mit dem Kopf auf dem Boden aufschlug, und zogst das Messer hervor. Die Klinge an seiner Halsschlagader, sagtest du: »Wenn Sie tun, was ich sage, dann geschieht Ihnen nichts.«
    Diese Angst, die Pein und die Verwirrung in seinen Augen, als du den schweren Rucksack von den Schultern genommen, auf dem Boden abgesetzt und die Autobatterie herausgeholt hast.
    Doch dieser 66-jährige, alte Mann war stärker als erwartet.
    Mehrere Stunden hielt er durch. Ob nun aus echter Zuneigung für William Anderson oder aufgrund

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