Das Gebot der Rache
immer noch meine linke Hand durchbohrte, und zog sie weiter zu mir herab. Die Klinge zeigte nun kerzengerade nach oben. Ich mobilisierte die allerletzten Reserven, und endlich schob sich die Spitze in das weiche Fleisch auf der Unterseite ihres Kinns.
Noch ein kräftiger Ruck, und ich hörte ein leises Krachen, als die Messerklinge sich von unten durch ihre Zungenwurzel in den Rachen bohrte.
»Mmmff. Urrr«, gurgelte sie.
Es folgte ein lauteres Krachen, als würde man eine Hummerschere knacken, und das Messer brach durch das Gaumenbein. Blut sprudelte aus ihrem Mund. Ich zog weiter, spürte, wie etwas nachgab, und sah tatsächlich, dass ihre Haut sich über den Messerrücken spannte, während die Klinge sich an ihrer Nase vorbei weiter aufwärts und tiefer in ihren Schädel schob, bis hinter die Augen, die kurz aufflackerten, als würden sie sehen wollen, was da drinnen passierte.
Dann bohrte sich ihr brennender Blick in meine Augen – erfüllt von dreißig Jahren Hass. Ich zog so fest ich konnte, und als ihr Kinn schließlich auf meiner durchbohrten Hand lag, spürte ich mit der rechten auf ihrem Hinterkopf, wie die Messerspitze von innen gegen die Schädeldecke stieß. Mit einem Seufzen erschauerte sie, und ihr Körper erschlaffte.
Während wir in dieser seltsamen Umarmung dalagen, wurde mir plötzlich bewusst, wie nass der Boden unter mir war. Die behelfsmäßige Aderpresse um meinen Oberschenkel war gerissen, und das Blut strömte aus dem, was von meinem linken Bein noch übrig war. Ich starrte in die Deckenlampen über mir. Der Lichtschein der Neonröhren schien heller zu werden und den ganzen Raum in weißes Rauschen zu tauchen.
»Es tut mir leid«, sagte ich.
Zu ihr? Zu Sammy? Zu Walt? Zu all den Menschen, die sie wegen meiner Tat umgebracht hatte? Ich wusste es nicht. Das weiße Rauschen nahm zu, legte sich wie warmer Schnee auf mich, wie der Schnee, der auch dieses Haus verschluckte, der diesen Teil der Welt wie ein Laken bedeckte. Und dann sah ich Sammy und Walt im Schnee, wie sie hinter Herby herrannten, lachten und Schneebälle warfen. Ich war irgendwo hinter ihnen, halb im Schatten, dort, wo ich einen Großteil meines Lebens verbracht hatte. Die Sonne schien warm auf uns herab, vom Schnee reflektiert als ein strahlendes Gleißen. Immer heller, immer intensiver wurde das Licht, blendete alles andere aus, alles außer einem gleichmäßig knatternden Geräusch. Sammy und Walt blickten jetzt hoch in den Himmel, hielten die Hände vor ihre Augen, sahen etwas, was ich nicht sehen konnte. Denn alles ertrank jetzt in diesem gleißenden Licht. Sammy, Walt, Herby und die Landschaft verschwanden und verblassten wie eine Fotografie im Wasser. Alles wurde weiß, und ich verließ meinen Körper. Wurde ein Teil davon. Ich war glücklich zu gehen.
Es tut mir leid.
Leb wohl.
Walt.
Epilog
Coldwater, Florida
Zwei Gallonen. Gut sieben Liter. Manchmal werde ich daran erinnert, wenn ich den Wagen auftanke. Wenn ich mit der Zapfpistole in der Hand die Sekunden zähle, die ich brauche, um sieben Liter in den Tank zu pumpen, denke ich: So viel haben sie mir gegeben. Oder wenn ich im Supermarkt Milch kaufe. Ich stelle mir sieben dieser großen Milchflaschen vor, randvoll mit Blut.
Die Ärzte haben alles in ihrer Macht Stehende getan, um mein Bein zu retten, doch der Gewebeverlust war zu groß. Ich leide die meiste Zeit unter Schmerzen, aber dank der Tabletten und des Krückstocks komme ich halbwegs klar.
Viel schwieriger war es, Walt wieder hinzukriegen. Nachts schreit er oft nach seiner Mutter, wenn er aus diesen Träumen erwacht, die ihn noch immer heimsuchen. Den Verlust seines Fingers verkraftet er besser als den der weitaus weniger greifbaren Dinge, die Gill Docherty ihm genommen hat. Eine Zeit lang bekam er starke Beruhigungsmittel verschrieben, aber sie machten ihn müde und antriebslos. Wir haben sie allmählich abgesetzt, dafür liege ich jetzt nachts wach und laufe in sein Zimmer, wenn er wieder weinend aus einem seiner Albträume hochschreckt. Ich lege dann meine Arme um ihn und flüstere: »Alles ist gut, du bist in Sicherheit. Ich bin ja da. Daddy ist da.« Manchmal ertappe ich ihn dabei, wie er mich ansieht, und ich frage mich, ob er gerade daran denkt, was ich getan habe, an die Dinge, die er in jener Nacht gehört hat. Wir sprechen nicht darüber, nur in der Therapie.
Keiner von uns beiden war auf der Beerdigung. Sammy und ihr Vater wurden am selben Tag in der Familiengruft außerhalb von Regina
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