Das Gebot der Rache
Tommy war der Erste, der sprach.
»Docherty! Steh auf, du Pisser!«
Im Physikunterricht hatte man uns zwar erzählt, dass die Geschwindigkeit fallender Körper irgendwie mit Masse, Zeit und Gravität zusammenhing, mit ungebremsten Kräften und unbeweglichen Objekten. Aber der Einzige hier, der zugehört haben dürfte und einem die entsprechende Gleichung hätte erklären können, sagte nichts mehr. Er würde nie mehr etwas sagen.
Aus seinem Ohr ergoss sich ein einzelnes Rinnsal – schwarz und dickflüssig wie Melasse. Mund und Augen waren geöffnet. Der Mund sah aus, als wollte er das Wörtchen »Nein« formen, die Augen starrten nur ausdruckslos in den leeren, blauen Himmel.
Ich übernahm das Kommando.
Ich war cleverer als sie.
Niemand hatte etwas gesehen.
Unser Wort war genauso viel wert wie das jedes Arschlochs, das es wagen würde, das Gegenteil zu behaupten.
Ich wies die anderen an, ihm keine Steine in die Taschen zu stecken. Das würde Verdacht wecken. Wir rollten ihn an die Kante des Wehrs und stießen ihn ins Wasser. Es würde aussehen, als wäre er von der Böschung gestürzt und hätte sich den Kopf aufgeschlagen. Vielleicht würde die Strömung ihn sogar ins Meer hinaus befördern. Mit dem Gesicht nach unten trieb er knapp unter der Oberfläche davon, nur in seinem Parka fing sich etwas Luft und hob den grünen Stoff ein winziges Stück aus dem Wasser.
Ich war ein kleiner Junge, der etwas sehr Böses getan hatte.
Im Gerichtssaal saßen wir trotzig und gelangweilt auf der Anklagebank.
Ich kam mit den Kinderpsychologen besser klar als Banny oder der »schwachsinnige« Tommy. Wir waren alle verdorben. Aber Banny war eindeutig der Rädelsführer. Sein Ruf in der Schule. Die Aussagen der Lehrer und Sozialarbeiter. Er versuchte, mich anzuschwärzen: »Stimmt, ich habe ihn geschlagen, aber er ist ihm auf den Kopf gesprungen.« Wir seien allesamt manipulative Lügner, sagten sie. Wir schoben uns gegenseitig die Schuld zu. Die wahre Geschichte kam nie ans Tageslicht. Banny war’s. Tommy war’s. Ich war’s. Wer konnte das schon beurteilen? »Weiß nich’ mehr.« – »Nee. Ehrlich, Alter.« – »Keinen Schimmer.« – »Sein Fehler, nich’ meiner.« – »Hab ich nich’ gewollt, ham wir alle nich’.«
Und dann die Geschichte im Zelt. O ja. Wie du dich Banny entgegengedrückt, dich an ihm gerieben hattest – dann ein Schaudern, tanzende Sterne, die plötzliche Feuchtigkeit unten im Schlafsack …
In deinem Kopf geriet über all die Jahre einiges gründlich durcheinander.
Ich schwöre, ich hatte Bannys Silhouette vor dem blauen Himmel gesehen, als er sprang. Die Ledersohlen der Loafer auf Dochertys Kopf. »Weiß nich’ mehr. Ehrlich. Banny war’s. Banny …«
Ich war’s.
41
Sie hatte zugehört, ohne etwas zu sagen – ohne jene Worte zu unterbrechen, die ich bisher gegenüber niemandem ausgesprochen hatte. Das einzige Geräusch im Raum kam von der Ratte, die leise am Glas kratzte und schabte. Walt lag bewusstlos auf dem Billardtisch. Er sah seltsam friedlich aus.
Nach langem Schweigen sagte sie: »Danke für deine Aufrichtigkeit.«
»Bitte lassen Sie ihn gehen.« Ich schluchzte. »Töten Sie mich.«
Ich hatte mir mein ganzes Glück nur erschlichen und mein Anrecht auf ein normales Leben vor dreißig Jahren am Flussufer verwirkt. Tommy war in der Gefängnisdusche verblutet, Banny rottete in seiner Zelle vor sich hin. Warum sollte ich etwas Besseres verdient haben?
Sie ging hinüber zum Tisch, nahm das Glas und drehte es auf den Kopf. Mit einem metallischen Geräusch landete die Ratte auf dem Deckel. Ihr Schwanz, gut dreißig Zentimeter lang, baumelte durch eines der Luftlöcher. Ihre Krallen schabten über das Blech. Ich schrie. Gill Docherty griff nach dem Skalpell. Der Nager wirbelte in dem Glas herum, gab ein scheußliches Quieken von sich, hüpfte auf und ab, kratzte an dem Deckel und steckte seine schwarzen Krallen durch die Löcher. Sie umfasste den Deckel und schraubte ihn langsam auf. Die Ratte drehte sich mit – wie auf einem grotesken Karussell.
Walt bewegte sich, als würde er selbst im Schlaf ahnen, was ihm bevorstand.
Ich bohrte meine Zähne in die Unterseite meiner Zunge, der Geschmack von Blut erfüllte meinen Mund. Konnte mir das gelingen? Mir die Zunge an der Wurzel abzubeißen, einmal tief Luft zu holen und gnädig an einer Fontäne meines eigenen Blutes zu ersticken? Ich hörte ein leises, gleichmäßiges Knattern in meinem Kopf. War es das, was mit einem geschah,
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