Das Geburtstagsgeschenk
Man sah förmlich, wie kalt es draußen war. Ich entschied mich für Rotwein, aber Ivor bestellte sich kurz entschlossen einen doppelten Scotch.
»Dürfte ich eigentlich nicht«, sagte er, »aber ich habe ihn nötig.«
Was denn los sei, wollte ich wissen.
»Hast du die Nachrichten gesehen oder Zeitung gelesen?«
»Den Standard habe ich in der U-Bahn liegen lassen.«
»Der Name der Frau sagt dir nichts?«
Ich hätte ihn gar nicht gelesen, sagte ich, bei so grausamen Storys dürfe man sich gar nicht länger aufhalten.
Ivor sah sich wie gehetzt um. Er senkte die Stimme. »Es ist Jane Atherton, Hebes Freundin. Unsere Alibi-Lady.«
Was sollte man dazu sagen?
»Ich hole dir die Zeitung.«
Er war gleich wieder da. Jane Athertons Mutter hatte die Tochter tot in deren Wohnung aufgefunden. Obgleich sie verabredet hatten, täglich in Kontakt zu bleiben, hatte die Mutter seit Sonntag nichts mehr von Jane gehört. Nachdem die Tochter auf ihre Anrufe nicht reagierte, war Mrs. Atherton, jetzt in großer Unruhe, am Mittwoch wieder nach London gefahren und hatte die Polizei veranlasst, die Wohnungstür gewaltsam zu öffnen. Jane lag auf ihrem Bett und hatte ein Messer im Rücken. Sie war vergewaltigt worden.
»Ich bin ganz schön mitgenommen, Rob.«
Kurz – aber wirklich nur ganz kurz – dachte ich, dass er meinte, er sei betroffen, bestürzt. Sie war eine Frau, sie war auf schreckliche Art zu Tode gekommen, sie war erst knapp über dreißig. Kannte ich ihn doch noch nicht gut genug?
»Ich meine – hat ihr Tod irgendetwas mit mir zu tun, etwas mit dem, was Hebe passiert ist? Ich wüsste eigentlich nicht, warum, aber trotzdem geht es mir nach. Es muss ein Motiv gegeben haben, da macht sich doch nicht aufs Geratewohl so ein Strolch an eine Frau heran und zieht ihr eins über, oder?«
Es ist die Angst davor, ein Tugendbold zu sein, für einen Tugendbold gehalten zu werden, der viele von uns daran hindert, einen klaren moralischen Standpunkt zu vertreten. Das war nicht immer so. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein hatten Männer keine Hemmungen, einem Freund zu sagen, er sei ein Schuft, wenn er gegen einen ungeschriebenen Code verstoßen hatte. Inzwischen gibt es das nicht mehr, und obwohl ich bei mir dachte, dass dies endgültig das Aus für meine Freundschaft mit Ivor bedeutete, sagte und unternahm ich nichts. Ich hätte aufstehen und mit der Bemerkung gehen können, jetzt sei endgültig Schluss, aber ich tat es nicht. So weit war ich schließlich schon ein paarmal gewesen. Außerdem wusste ich nicht, ob ich aus dem Labyrinth des Parlamentsgebäudes allein wieder herausfinden würde. Ich saß still da und schwieg. Falls er spürte, dass etwas nicht in Ordnung war, ließ er sich nichts anmerken.
»Unvernünftig von mir, in diese Richtung zu denken«, sagte er.
»In welche Richtung?«, fragte ich. Es hatte frostig klingen sollen, verfehlte aber wohl seine Wirkung.
Ivor verzog das Gesicht. Im Pugin Room war es jetzt voll und sehr laut. Er rückte seinen Stuhl näher an meinen heran. »Dass sie anderen Leuten davon erzählt haben könnte. Freunden von ihr, die auch mit Hebe befreundet waren. Das ist doch durchaus denkbar, so was behält man doch nicht für sich, aber immerhin hat sie nicht viel gewusst. Viel mehr Sorgen macht mir, dass sich womöglich jetzt die Polizei für mich interessiert.«
»Warum sollte sie?«
»Überleg doch mal. Die Polizei wird mit ihren Freunden sprechen, vielleicht auch mit Gerry Furnal, dem Perlenheld. Und ganz bestimmt mit ihrer Mutter, die hat schließlich die Tote gefunden. Wenn Jane Atherton ein gutes Verhältnis zu ihrer Mutter hatte, wird sie ihr das von mir und Hebe erzählt haben.«
»Es ist vier Jahre her«, wandte ich ein. »Die beiden hatten bestimmt über Besseres, Aktuelleres zu reden. Menschen in deiner Lage neigen zum Verfolgungswahn, und du bist schon an diesem Punkt. Glaubst du wirklich, eine Frau, deren Tochter vergewaltigt und erstochen wurde, erzählt der Polizei, dass diese Tochter einer Freundin, die seit vier Jahren tot ist, mal ein Alibi geliefert hat? Dass diese Freundin ein Verhältnis mit dir hatte? Und selbst wenn sie es täte – würde die Polizei dir ein Mordmotiv unterstellen? Ich bitte dich, Ivor …“
»Sprich leiser«, sagte er nervös. »So habe ich das nicht gemeint – oder ja, vielleicht doch. Mir liegt die ganze Sache einfach im Magen. O je, eine Abstimmung. Geh nicht weg, ich komme wieder.«
Auf dem Bildschirm war die grüne Glocke erschienen.
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