Das Geburtstagsgeschenk
Hier, gewissermaßen an der Schnittstelle der beiden Gremien, war das Signal für die Abstimmungen in Ober- und Unterhaus gleichermaßen zu hören. Ich sah auf das schwarze Wasser, die Lichter, die unruhigen, wie geronnen wirkenden Wolkenfetzen, überlegte, was im schlimmsten Fall passieren konnte, und kam zu dem Schluss, dass nicht sehr viel zu befürchten war. Jane Athertons Mutter würde den Namen ihrer Tochter nicht beschmutzen, würde nicht irgendwelchen Leuten – und schon gar nicht der Polizei – erzählen, dass Jane einer Freundin ein Alibi geliefert hatte, damit die Ehebruch begehen konnte. Wenn die Polizei aber herausbekam, dass Jane eine Freundin gehabt hatte, die es vor vier Jahren mit einem konservativen Parlamentarier getrieben hatte … Nein, das war lächerlich, war viel zu weit hergeholt, war geradezu neurotisch.
Dann kam Ivor zurück. »Denkst du noch an deine erste Begegnung mit Hebe, wenn du die Abstimmungsglocke hörst?«, fragte ich ihn.
Er hatte mir früher mal erzählt, die Glocke erinnere ihn an sie. Jetzt sah er mich groß an. »Dass ausgerechnet du mich so was fragst … Das ist keine Frage für einen Mann. Wenn Iris sie mir gestellt hätte …“
»Komm, sag schon.«
»Überleg doch mal, Rob. Wie oft bin ich in den letzten vier Jahren zur Abstimmung gegangen? Das wäre doch überhaupt nicht möglich, wäre gegen die menschliche Natur. Du weißt, dass ich verrückt nach Hebe war, aber trotzdem …“
»Mach dir keine Gedanken wegen Jane Atherton«, sagte ich. »Du wirst in der Sache nichts mehr hören.«
Und eine Zeit lang behielt ich recht.
Fünf parlamentarische Nachwahlen im Juni und zeitgleiche Wahlen fürs Europaparlament hatten verdeutlicht (ich zitiere eine linke Zeitung), wie unbeliebt die konservative Regierung war. In Eastleigh gewannen die Liberaldemokraten mit über neuntausend Stimmen Vorsprung gegenüber der Labour Party, die Konservativen kamen nur auf den dritten Platz. Bradford South und Barking blieben mit einer wesentlich größeren Mehrheit in den Händen von Labour, auch hier wurden die Konservativen nur die drittstärkste Partei. Auf dem Scheitelpunkt dieser Welle hielt in jenem Herbst Aaron Hunter auf einer Kundgebung der Liberaldemokraten in Imberwell eine viel beachtete Rede, etwas für einen parteilosen Kandidaten sehr Ungewöhnliches.
Er geißelte Korruption und Unmoral, wobei er, wie ich vermute, konkret den neuesten Täter (beziehungsweise das neueste Opfer) im Auge hatte, einen General der Luftwaffe mit einer unpassenden Freundin, aber auch ganz allgemein die Inhaber öffentlicher Ämter und im Besonderen konservative Parlamentarier. Der eine hatte einen Meineid geschworen und ein anderer Ehebruch begangen und einen Meineid geschworen, und ein dritter hatte sich bei einem Akt der Selbstbefriedigung aus Versehen erhängt. Hunter brachte dreißig Jahre zurückliegende orgiastische Hauspartys ebenso aufs Tapet wie einen flotten Dreier aus den vergangenen Monaten. Sein Ton war dabei durchgehend frömmlerisch-scheinheilig. Ich behaupte ja, dass alle politischen Parteien ihre Skandale haben. Beim linken Flügel, bei Labour oder den Liberalen, geht es meist um Betrügereien in der einen oder anderen Form, bei den Konservativen um Sex. Als ich Ivor einmal mit dieser Theorie kam, sagte er lachend, er wisse, was ihm lieber sei, und die meisten vernünftigen Menschen würden ihm da sicher zustimmen.
Was er von Hunters Rede hielt, weiß ich nicht, wir haben nie darüber gesprochen. Im Hinblick auf Aaron Hunter vertrat er die Ansicht, dass Politik etwas für Profis sei und dass einer, der eine Ausbildung in anderen Disziplinen habe, lieber die Finger davon lassen solle. Wo aber die Trennlinie zwischen dem Amateur und dem Berufspolitiker verlief, sagte er nicht. Aber auch etwas Erfreuliches hatte er zu berichten: Er und Juliet hatten ihre Besuche bei den Lynchs »auslaufen lassen«.
»Das Problem«, erläuterte er, »war wohl von Anfang an der Klassenunterschied. Ich habe mir eingeredet, dass ich mich darüber hinwegsetzen könnte, ja sogar, dass sie gern mit mir zusammen wären und ich mit ihnen. Aber das stimmt nicht. Sie fühlen sich nicht wohl bei mir, ich fühle mich nicht wohl bei ihnen. Dass Seans Freundin mich »Ive« nennt, geht mir gegen den Strich. Für Juliet ist es ein bisschen einfacher, mit der kommen sie besser zurecht.«
Er hielt inne. Einen Augenblick dachte ich erschrocken, er wolle andeuten, Juliet stünde in der Klassenordnung einige
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