Das Geburtstagsgeschenk
Sozialwohnungen, auf deren Balkons Wäschestücke zum Trocknen hingen und Fahrräder standen. Ivor, Absolvent von Eton und Brasenose, war im Wahlkampf in Sozialsiedlungen von Tür zu Tür gegangen, so dass ihm dieses Milieu nicht fremd war. Dass den Hausflur Graffiti zierten und der Aufzug nicht funktionierte, überraschte ihn nicht. Ohne einen klaren Plan stieg er die Treppe zur Wohnung Nummer 23 hoch.
Als er zum dritten Stock kam, ging die Tür von Nummer 23 auf, und eine Frau kam heraus. Sie war um die sechzig und sah Dermot erstaunlich ähnlich – oder er ihr. Von daher kannte er also Kittelschürze und Hausschuhe. Sie wollte ein Päckchen hereinholen, das ihr jemand vor die Tür gelegt hatte. Ivor ging an ihr vorbei bis zum vierten Stock, ohne dass sie ihn gesehen oder beachtet hätte.
»Gesprochen hast du nicht mit ihr?«, vergewisserte sich Iris.
»Aber nein, natürlich nicht.«
»Wozu dann das Ganze?«
»Frag mich was Leichteres. Ich wusste, dass Dermot dort gewohnt hatte, aber ich wusste nicht, ob seine Mutter dort allein lebt oder zusammen mit seinem Bruder. Ich bin wohl einfach hingegangen, weil ich so nicht weitermachen kann. Obwohl mir im Grunde nichts anderes übrig bleibt. Inzwischen habe ich mich bemüht, so viel wie möglich über die Familie zu erfahren, aber gebracht hat es mir nichts. Der Bruder heißt Sean und arbeitet auf dem Bau. Er ist nicht verheiratet oder so.«
Was dieses ›oder so‹ heißen sollte, wollte ich wissen.
»Nichteheliche Gemeinschaft nennen wir Politiker das.«
»Und Dermot?«
»Der ist offenbar auch noch ungebunden. Sie sind Engländer in erster Generation. Beide Elternteile kamen um 1960 aus Irland und haben erst in Kilburn gewohnt.«
»Und was fängst du nun mit deiner Weisheit an?«, fragte Iris.
»Wenn ich das wüsste.« Der arme Ivor gab einen Laut von sich, den Schriftsteller um 1920, wie mich Iris belehrte, gern als »freudloses Lachen« bezeichneten. »Ich sage mir, dass es mich interessiert, weil ich eigentlich etwas für die Lynchs tun müsste. Weil es sozusagen ja meine Schuld war. Gewiss, Lloyd Freemans Tod war ebenso meine Schuld, und seinetwegen habe ich nichts unternommen. Immerhin hatte er eine Freundin, mit der er zusammenlebte.«
»Lass die Finger davon«, riet Iris. »Mit Dermot Lynch hast du schon genug am Hals.«
»Ich will nicht, dass er sich erholt. Wenn ich ganz ehrlich bin, will ich, dass er stirbt. Ist das nicht grauenvoll? Müsstet ihr mir jetzt nicht die Tür weisen? Er hat mir nichts getan, und trotzdem wünsche ich ihm den Tod. Ich bin ein komplettes Arschloch.
Ich weiß, in welchem Krankenhaus er ist und auf welcher Station, und traue mir zu, mich dort einzuschleichen. Ich stelle mir die Szene vor, ich träume davon. Ich sehe mich an seinem Bett sitzen und warten, dass er aufwacht. Und dann spreche ich mit einem Arzt, dem zuständigen Facharzt, und der sagt mir, dass Dermot nie wieder aufwachen wird, und ich bin so erleichtert, dass ich laut loslache, und alle stehen um mich herum und glotzen.«
Es ließ ihn nicht los. Am nächsten Tag stand er wieder auf der Schwelle. Er hatte die Akten durchgearbeitet, die man ihm in den Wahlkreis geschickt hatte, und war auf dem Weg zurück nach London.
»Ich wollte eigentlich noch nach Leicestershire, zu Erica Caxton, aber ich hatte keine freie Minute. Ich versuche, sie und ihre Kinder so oft wie möglich zu sehen. Nächste Woche hole ich es nach.«
Beim Tee erzählte er uns, was so ein Ministeramt bedeutet. Seine Privatsekretärin war eine gewisse Emma, deren Aufgabe es war, seinen Arbeitstag zu organisieren, stets ein Auge auf ihn zu haben und dafür zu sorgen, dass er keine Dummheiten machte. Iris wollte wissen, wie er sie ansprach. Mit Emma, sagte er, aber laut Protokoll müsse sie wie auch seine übrigen Mitarbeiter ›Herr Minister‹ zu ihm sagen, während es gleichzeitig Sitte des Hauses war, dass er und sein Staatssekretär sich mit Vornamen anredeten. Ivor fand das völlig in Ordnung, so wie man die obskuren Regeln seines Klubs in Ordnung findet, Regeln, die außerhalb von Whitehall und Westminsterpalast kein Mensch versteht.
Ich hatte den Eindruck, dass er all das mehr als früher schätzte, weil er es bedroht sah. Ein Wort an die Medien über das, was er an jenem Abend im Mai getan, und vor allem über das, was er unterlassen hatte, dass er nicht zur Polizei gegangen, seine Beteiligung an der Sache nicht zugegeben hatte – und sein Ansehen, sein Amt und seine Macht waren
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