Das Geburtstagsgeschenk
Beratergruppe sollte er am nächsten Tag über die wegweisende Bedeutung eines bestimmten, von unserer Luftwaffe eingesetzten Bombentyps referieren (wenn ich das richtig in Erinnerung habe). Als er sein Referat hinter sich hatte, kam er kurz nach London zurück. Nach Brighton hatte ihn der Dienstwagen gebracht, aber für seinen heimlichen Besuch konnte er ihn nicht benutzen. Er nahm den Zug bis Victoria Station und fuhr von dort mit der U-Bahn bis Warwick Avenue.
Schwer zu sagen, warum er hinfuhr, was er zu erreichen hoffte. Er selbst sagte, er wisse es nicht, als er mir schließlich davon erzählte. Ein Psychologe würde wohl sagen, dass ein Mensch mit einer Obsession den Gegenstand dieser Obsession möglichst nah im Blick behalten möchte – nicht nur bildlich, sondern gegenständlich. Und Symbol für Ivors Obsession war eben William Cross Court.
Er hatte sich unentwegt Gedanken gemacht, immer die gleichen Ängste und Hoffnungen und Spekulationen kreisten in seinem Kopf – vor seiner Rede auf der Tagung, nach seiner Rede, als er auf einen Drink in der Hotelbar saß, während er nachts allein in seinem Hotelzimmer lag. Das musste aufhören. Wenn er keinen Nervenzusammenbruch bekommen wollte, musste er der Sache ein Ende machen. Ungeachtet aller Einwände und Warnungen und obwohl Sean nach wie vor auf der nahe gelegenen Polizeistation von Paddington Green verhört wurde, gab es nur eine Möglichkeit: Er musste mit Philomena Lynch sprechen.
Er hatte sich das so überlegt, dass er sich vorstellen und ihr sagen würde, Dermot habe sich immer so nett um seinen Wagen gekümmert, und jetzt mache er, Ivor, sich zunehmend Sorgen um ihn. Er wäre schon früher gekommen, habe aber nicht stören wollen. Jetzt sei er zufällig in der Gegend gewesen, habe sich an die Adresse erinnert und sei spontan vorbeigekommen, um sich nach Dermot zu erkundigen.
Dieser Vorwand war so durchsichtig – wozu gab es schließlich das Telefon? –, dass man sich bei einem intelligenten Mann wie Ivor darüber nur wundern konnte. Abgesehen von dem Versprechen, das er uns gegeben hatte, war es eine so leichtsinnige, für seine Karriere geradezu selbstmörderische Unternehmung, dass ich, als er schließlich damit herausrückte, meinen Ohren nicht traute. Seine Erklärung immerhin konnte ich zumindest halbwegs verstehen.
Es sei wie bei einem Würfelspiel gewesen, sagte er, bei dem das ganze Glück, die ganze Zukunft des Spielers davon abhängt, dass er eine Sechs wirft. Warf er, Ivor, eine Sechs, würde Philomena Lynch mit ihm sprechen und ihm sagen, dass ihr Sohn das Bewusstsein nie wiedererlangen werde und sie daran denke, alle lebenserhaltenden Maßnahmen einstellen zu lassen. Dann war er aus dem Schneider, alles war gut, die Qual der letzten Monate vorüber. Eine andere Zahl konnte bedeuten, dass sie ihm ein Gespräch verweigern oder ihm eröffnen würde, Dermot sei auf dem Wege der Besserung oder, im schlimmsten Fall, Dermot habe ihr anvertraut, er wisse etwas, worüber er mit der Polizei reden wolle.
Es hätte sich gelohnt, eine dieser Möglichkeiten zu riskieren, wenn andererseits die Chance für eine Sechs bestand. Wahrscheinlich denken alle Spieler so. Die Chance war zu verheißungsvoll, der Seelenfrieden schien garantiert. Hätte ich irgendwann einmal über Monate in unablässiger Angst gelebt, sagte Ivor, könnte ich das nachvollziehen. Mit diesen Gedanken beschäftigt stieg er in William Cross Court das graffitibeschmierte Treppenhaus hoch und machte sich gleichzeitig Vorwürfe, dass er den Tod eines Mitmenschen herbeisehnen konnte.
Er kam nicht dazu, die Wohnung zu betreten, Philomena Lynch nach Dermot zu befragen oder auch nur ein Wort mit ihr zu wechseln. Denn als er den dritten Stock erreicht hatte, hörte er Schritte hinter sich, die Schritte einer Frau in hochhackigen Schuhen. Dass es Mrs. Lynch war, schien unwahrscheinlich, aber er wollte nichts riskieren, denn nach ungezählten Stunden und Tagen der Gewissenserforschung war er sich immer noch nicht sicher, wie er das Gespräch mit ihr beginnen sollte. Er ging deshalb wie beim ersten Mal bis zum vierten Stock, blieb oben stehen und blickte nach unten. Die Frau, die jetzt im dritten Stock angekommen war und bei der Familie Lynch klingelte, war Lloyd Freemans Exfreundin.
Er hatte sie nur einmal gesehen, auf der Party von Nicola Ross, aber er erkannte sie sofort. Sie war eine schöne Frau, üppig, aber nicht dick, mit fast makellosen Gesichtszügen und vollem dunklem, lockigem
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