Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Gedächtnis der Libellen

Das Gedächtnis der Libellen

Titel: Das Gedächtnis der Libellen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marica Bodrožic
Vom Netzwerk:
of happily married man …
    Wir küssten uns, umarmten uns, und ich schickte ihn weg, so schnell ich konnte, auf die Straße zurück schickte ich ihn, er sollte zu seinem eigenen Hotel gehen, in sein Zimmer, zu seinem Leben, ohne mich. Und so war es auch, er verabschiedete sich, ging ein paar Mal von meinem zu seinem Hotel, bis wir betrunken und kraftlos genug waren, um uns ein paar Nächte später schließlich nicht mehr voneinander zu verabschieden. Wir blieben beieinander, wir zogen uns aus, wie sich alle Leute ausziehen, die sich lieben und begehren und die glauben, dass sie zugrunde gehen, wenn sie den anderen nicht ausziehen und nicht berühren, nicht lieben und nicht begehren, wenn man doch einander liebt und begehrt. Danach habe ich Ilja nicht mehr geglaubt, dass er ein happily married man ist, die gesagten Sätze, auch alle Liebessätze, die je zuvor gesagt worden sind, mussten sich an den drei Wörtern messen lassen, die mir ein Mann zum ersten Mal in meiner Muttersprache sagte.

    Ich habe mich wie ein Kind benommen, ich habe mich an Iljas Ich liebe Dich festgehalten, wie ich mich sonst nur am Gedächtnis festhalte. Und ich habe nicht bemerkt, dass ich so niemals von ihm loskommen konnte. Nach einer Woche sprach ich schon vom Loskommen. Arj eta sagte, ich rieche den Braten, Ilja ist nicht nur die Vorhölle für dich, er ist der Zerberus, die Vorhölle und die richtige Hölle, er ist alles Schlimme auf einmal für dich. Ich hätte Arjeta dafür ohrfeigen können, ich wollte so nicht über Ilja denken. Aber Arjeta war klug. Es gibt keinen Abschied, keine Ablösung, keine glückliche Gegenwart, solange jemand den Abschied mit diesen Worten einleitet. Mit einer Liebeserklärung leitet man keinen Abschied ein, man beginnt etwas Neues. Arjeta sagt sogar, das macht man nur mit Hunden. Man halte sie an der langen Leine. Den Grund dafür dürfte ich kennen.
    Ilja und Abschied, das ist aus der Rückschau betrachtet ein und dasselbe für mich geworden. Wo auch immer sein Name mir begegnet, sage ich mir im Stillen, der Name solle gehen, geh weg du Name des Abschieds, aber der Name kommt immer wieder zurück, irgendwo auf einer Leuchtreklame auf den Champs-Élysées, in einem Film, in russischen Büchern, auf Kinderspielplätzen. Dann steht der Name in der Luft, und mit ihm kehrt die ganze Erinnerung zu mir zurück, alles, was ich mit Ilja gesprochen, gefühlt, gesehen habe. Solange er da war, schien mir vieles möglich, alles schien möglich, was auch immer alles war. Er nährte meine Vorstellungskraft nicht nur mit Küssen, er tat es auch mit Liedern, die er für mich aufnahm und von überall auf der Welt nach Berlin schickte, Lauryn Hill, Bob Dylan, Tom Waits und Cibelle sangen über Schicksal, Bestimmung und Glück. Think of me when a train goes by. Come closer, don’t be shy. He will never be free of me. He will make a tree of me. Es waren Lieder, die meine Imagination wie eine Hungrige fütterten. Nie, sagte er, habe ich jemanden wie dich getroffen, keinen, der die Imagination so tief in sich trägt, dass sie dabei eine Landschaft wird, die man auch im Außen betreten kann. Ja, so etwas hat Ilja zu mir gesagt. Er ist Schriftsteller. Das hätte mich warnen müssen. Aber ich fühlte mich nicht gewarnt. Ich hielt die Schatten in unserer kleinen Liebeshöhle für die Ankündigung von kommendem Sonnenlicht. Den Schatten konnte ich alles abgewinnen, ich kannte mich aus mit Visionen. Aber als Geliebte kannst du sterben, dein Geliebter macht vielleicht gerade seiner Ehefrau ein Frühstück, und du, du stirbst gerade an irgendeiner schlimmen Krankheit, vielleicht einer richtig schlimmen, während die beiden sich schick anziehen und ins Konzert gehen, in die Philharmonie, Bach wird gespielt, Haydn oder Mahler oder auch nur Madeleine Peyroux, irgendwo in einem großen Saal, in Frankreich, Amerika, Australien, es ist doch egal, was es ist und wo es stattfindet. Was du jetzt zum ersten Mal verstehst, ist dein endloses Warten; dein Warten macht dich krank. An so einem Warten stirbt man doch; ganz schnell geht das, Ilja hat das nie verstanden. Du hast dir vorgestellt, dass Ilja nur die Fassaden seines Glücks hatte retten wollen und dass er jetzt weiß, wie schwer es sein kann, einen ganzen Tag lang allein zu leben, allein spazieren zu gehen, allein ins Kino zu gehen, wenn es keinen sicheren Hafen gibt, in den man einlaufen kann wie ein altes Schiff, das seinen Ort hat, ganz egal, ob es draußen schneit, regnet oder ob es

Weitere Kostenlose Bücher