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Das Gedächtnis der Libellen

Das Gedächtnis der Libellen

Titel: Das Gedächtnis der Libellen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marica Bodrožic
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Baumkronen dich mehr trösten können, die Enttäuschung wie eine bittere Pille hinunter. Du schluckst sie und weißt, sie allein wird helfen, Zeit wirst du brauchen, wieder ein Mensch mehr, der Zeit brauchen wird, der behaupten wird, dass die Zeit nicht alle Wunden heilt. Nein, die Zeit kann gar nichts ohne deine Einsicht tun. Aber irgendwann wirst du verstehen, dass es nicht einmal Iljas Schuld war, dass du selbst die Täuschung möglich gemacht hast, die einmal ein Ende nehmen musste. Enttäuschung. Du willst ein Wort wie Enttäuschung einfach nicht benutzen. Du siehst aber, du siehst und ärgerst dich, dass du es siehst, das Ende der Täuschung, dass du sie schon am Wort siehst. Und dann, als dein Ärger Tränen und deine Tränen Halsweh Platz gemacht haben, versprichst du dir etwas von diesem Ende, versprichst dir etwas, das dir noch fremder ist als ein Fremder in einer Stadt wie New York. Du willst jetzt achtsam sein. Vielleicht endlich dich selbst beschützen. Aber Iljas Lächeln, das wirst du nie vergessen, du weißt noch genau, wie er gelächelt hat, das erste Mal, das zweite Mal, nackt und angezogen, rauchend und frühstückend und trinkend, Saftküsse, Cappuccinoküsse, Weinküsse. Alles weißt du. Dass es schön war, wie er dich geküsst hat, am Morgen, mit müden Augen, wie er dich von sich weggehalten und zu sich hingezogen hat, wie er dich ausgezogen, bestürmt, manchmal aus Spaß wieder angezogen hat, erst das Unterhemd, dann den Seidenunterrock, du weißt, wie er dich dabei umarmt und abgeleckt und wieder ausgezogen hat. Du wirst es nie vergessen, so hat dich noch niemand an- und wieder ausgezogen. So bist du, so schwach, du hältst dich an der Erinnerung fest wie an einem Menschen.

    Wenn alle längst an Orte gegangen sind, die sie Heimat, Haus, Hof nennen, stehst du in fremden Gärten herum, auf langnamigen Avenuen, auf einem kalten Balkon. Doch dort stehst du nicht einfach so in der Welt. Auch da machst du wieder nichts anderes, als dich einmal mehr an der Erinnerung festzuhalten. Du erschaffst es immer wieder neu, das, was du dein Gedächtnis nennst, du bestückst es mit Details, reicherst es an mit dem, was Gegenwart sein könnte. Aber nie wird ein Jetzt daraus, weil du es einfach nicht gestattest und mit deiner akribischen Erinnerung, mit deiner Vogelperspektive, mit deiner ständigen Gekränktheit blockierst. Das Schlimme an dir, das wirklich Schlimme ist, dass du nicht weißt, wie man vergisst, und dass du behauptest, dabei nicht nachtragend zu sein. Du weißt, wie sehr Iljas Anwesenheit in deinem Leben dich und dein Leben gewärmt hat, du erinnerst dich, du kennst es noch so genau, jenes erstmalig erlebte Gefühl, das sich eingestellt hat, nachdem er dir seine Liebe eingestand, in jenem zwanzigstöckigen kommunistischen Hotel, als ihr neben der kleinen undefinierbaren Pflanze die halbe Moskauer Nacht in eurer ersten Muttersprache den Versuch unternahmt, euch voneinander zu verabschieden, klug und umsichtig zu sein, auf keinen Fall miteinander zu schlafen. Denn schon damals hatte Ilja gesagt, er sei ein glücklich verheirateter Mann. So stehe es um ihn, so werde es immer um ihn stehen.

    Vielleicht hat Ilja diese Sätze, die sich mir schon beim erstmaligen Aussprechen ins Gedächtnis brannten, so wie eine Stichflamme einem in die Augen schießt, immer deshalb in einer anderen Sprache gesagt, weil ihn an unserer Muttersprache irgendetwas beunruhigte, so als könne sie das nicht tragen, was er mir zu sagen hatte. Doch es lag nicht an der Sprache. Es lag an ihm. Es wäre ein Verrat gewesen, an seinem ganzen bisherigen Leben, an der anderen Frau, an allem, was er mit ihr erlebt hatte, wenn er es in dieser ersten Sprache auch zu mir gesagt hätte. Deshalb entschied er sich für Englisch. Listen … you and me, we are … different … never had this feeling before, it’s strange, very strange, because I’m a happily married man. Wir waren auf einem Kongress, das Thema »Kunst und Macht« hatte uns und dreißig andere aus verschiedenen Ländern der Welt hierher geführt. Wieder ein Osten, der keiner mehr ist, und dann sprach ich, als hätte Iljas Englisch eine alte Musik in mir aktiviert, mit ihm dann nur in dieser Sprache. Ich habe Regeln damit akzeptiert. Ich habe wie eine kopflose Fliege Wörter wie »stuff« und »life« und so etwas wie »kind of« gesagt. Don’t know … what to say, I never had this stuff in my life…I mean, we shouldn’t do it if you are that … if you are that kind

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