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Das Gedächtnis der Libellen

Das Gedächtnis der Libellen

Titel: Das Gedächtnis der Libellen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marica Bodrožic
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hat nur einen festen Platz in den Archiven des Gewesenen. Die zählbaren Dinge gehören der äußeren Welt an, alles, was man zählen kann, macht auf Dauer hungrig. Wir sind selbst schuld daran, dass wir immer satt werden wollen. Andererseits weiß ich genau, wie Sattsein und Hunger miteinander verbunden sind. Es ist in allem eine Zwickmühle drin, nur in der Liebe und im Erzählen nicht, da findet sich alles in der Vereinigung zusammen und wird dann allen Widersprüchen zum Trotz etwas Ganzes. Sprache.
    Der schönste Hunger ist der Liebeshunger. So heißt der Hunger, der kommt, wenn man jemanden plötzlich liebt, zu einem Zeitpunkt, da man geglaubt hat, dass man nie wieder jemanden und schon gar nicht grundlos lieben kann. Und dann liebst du doch jemanden aus heiterem Himmel heraus, grundlos auch, so, wie ich auch Ilja plötzlich und aus heiterem Himmel heraus geliebt habe. Aber später ist alles verloren gewesen, der Liebeshunger war kein Hunger, war nur noch ein Kummerhunger. Und der Kummerhunger ist der, der uns zwingt, nichts mehr zu essen. Obwohl wir wissen, dass wir hungrig sind, essen wir dennoch nichts. Irgendetwas im Magen stellt sich quer wie eine Fischgräte im Hals, und der Kummer wird dicker und dicker, während man selbst einfach abnimmt und abnimmt, ohne dass sich irgendeine graue Zelle des eigenen Gehirns für das schlichteste Sattsein einsetzen würde. Irgendwann verschwindet der Kummerhunger, und wieder ist etwas Neues da, plötzlich da, wieder das einfache Sehen der Dinge und das Freundschaftschließen mit Sätzen, Landschaften und Menschen. Also muss es doch stimmen, dass wir im Grunde nur lieben und nur erzählen und dass alles andere vergänglich und somit bedeutungslos ist, da es auch in uns selbst spurlos vergeht. Der Rest ist Zwischenton, verschallende kleine Luftbrücken, auf die wir uns mit unseren Namen und Adressen zu retten versuchen, bis wir merken, die Luft ist alles andere als eine Brücke. Die Luft verwandelt alle Dinge, alle Namen werden so lange gedreht und gewendet, bis die Buchstaben etwas ganz anderes sagen als wir es gewohnt sind. Ein anderer Weg zum Leben als über die Teilhabe an der Luft ist uns aber nicht gegeben.

6
    Um Missverständnisse zu vermeiden, möchte ich aber betonen, dass dies kein banales Plädoyer für Träume ist. Deswegen habe ich nicht die Physik aufgegeben. Auch Ilja, dem ich so viel zugetraut habe, hat das falsch verstanden. Er hat mich in die Gruppe jener Einsamen gesteckt, die von Träumen leben. Diese Verletzung ist wie Salz in einer frisch vernähten Wunde. Aber sie hat mir geholfen, Ilja aus mir zu verbannen.
    Ich habe als Kind versucht, die Sterne zu zählen, und bin daran gescheitert. Das Zählen der Sterne war ein Versuch, etwas greifbar zu machen, das ungreifbar ist. Wer sich wundern kann, weiß sehr viel, und wer träumen kann, weiß noch mehr. Es geht mir um diese Art Wissen, nicht um die armen Narren, die sich einbilden, Tagträume könnten ihr Leben im Hier und Jetzt ersetzen.
    Ich habe die Sterne beobachtet, über Gott Notizen verfasst und schließlich das Rot des Himmels für eine Botschaft von beiden gehalten. Das war meine Art, mathematisch die Welt zu verhandeln und ein Archiv meiner eigenen Grenzen anzulegen. Dabei habe ich erfahren, dass Engel manchmal im Teufelsgewand durch die Welt streifen und einem das Gute stehlen, damit man sich beim nächsten Mal besser beschützt.
    Alles, wovon ich erzähle, ist der Versuch, aus der sprachlosen Zeit an die Wörter heranzukommen, um etwas von ihnen zu lernen. So gesehen hat Ilja Recht gehabt, als er mich zu den Einsamen zählte. Aber er hat nicht verstanden, dass ich die Einsamkeit suche, dass ich sie als meinen gefallenen Engel begreife und dass dieser Engel ein Teil meiner selbst ist, ich ihn niemals loswerde, dass ich ihn gar nicht mehr loswerden will. Wörter helfen mir dabei, mit Wörtern werde ich wach an meinem gefallenen Engel. Ich bin ein beschrifteter Mensch. Je mehr ich mit den Wörtern Freundschaft schließe, desto klarer wird mir, wie wenig ich als Physikerin geeignet war, über Räume wissenschaftlich nachzudenken.

    Die Physik ist mit dem Erzählen verwandt, aber während das eine das Geheimnis in eine Formel bannt, erschreibt sich das Geheimnis im Erzählen immer größere Ufer, zeitgleich, noch während man über es spricht. Es wächst aus der Sprache heraus und weiß immer mehr als ich selbst. Die Physik ist gefährlicher, aber die Formeln sind wie Sedativa, man nimmt sie,

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