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Das Gedächtnis der Libellen

Das Gedächtnis der Libellen

Titel: Das Gedächtnis der Libellen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marica Bodrožic
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August ist, wenn die Sonne scheint und alles in der Helligkeit des Meeres und des Augusthimmels leuchtet wie zum ersten Mal. Immer ist da der Hafen, immer ein Platz, auch für das älteste Schiff. Ich hatte nie so ein Leben, niemanden, der je irgendeine Art von Hafen für mich gewesen ist, und ich kann es manchmal verstehen, wenn ich am Frühstückstisch sitze und die Brötchen nach Frische und Sommer riechen, dass jemand so einen Hafen nicht mehr weggibt und bereit ist zu töten, mit vielen Waffen, die Wörter werden dann zu Pistolen, Gewehren und Handgranaten.
    Für einen Menschen, der den Krieg überlebt und in diesem Krieg viel verloren hat, für einen solchen Menschen ist Ilja ein überraschend begabter Schicksalskapitän geworden, einer, der sich gut auskannte, mit vielen Waffen, obwohl er nie beim Militär war. Ilja hat nie gewartet. Niemals. Auf nichts und niemanden. Du hingegen hast immer gewartet.
    Das Warten an sich ist vielleicht diese schlimme Krankheit, die du schon so lange kennst, dass sie deine Haut geworden ist. Ilja kann nichts dafür. Er hat das Warten nicht erfunden. Aber du, du hättest umsichtiger sein müssen, es ist doch kein Wunder, dass du falsche Dinge mit einer falschen Haut empfindest, erwartest und erträumst und dann am Ende auch das Falsche bekommst. Träumen ist nur Wünschen, dass die Dinge und du berührbar werden, dass du aufhörst, falsche Dinge zu tun und zu sagen, wenn du dich und deine echte Haut meinst. Du hast nie gelernt, deine Gefühle zu beschützen, du hast sie dir selbst nie eingestanden. Du hast so getan, als hättest du keine. Dabei bist du eine plattentektonische Gefühlsfabrik. Ilja hatte keine Schuld. Die Fabrik bist du ganz allein.

    Ich habe ihn gezwungen, eine Einheit mit mir zu bilden, sage ich zu Arjeta. Vielleicht sage ich das, weil ich nur mir die Schuld an allem geben will, weil ich aufhören möchte, an Iljaland zu denken, damit ich ihn endlich und schneller und für immer vergesse. Er wollte etwas Gutes tun, sage ich zu Arjeta, und da kam ich gerade recht. Und dass er das angenommen, diese Einheit so akzeptiert hat und dieser gute Mensch in meinem Leben war, dafür werde ich Ilja immer hassen, sage ich zu ihr, so, wie ich noch nie einen Menschen in meinem Leben gehasst habe. Arjeta sieht mich zärtlich an und hört zu, wie nicht einmal Tiere zuhören können, so leise ist sie dabei, dass ich mit einem Mal begreife, es kann Jahre so weitergehen, Ilja ist wie geschaffen dafür, dass ich mich in meiner Warteschlaufe verfange. Auf einen Menschen wie ihn kann man Jahre warten, ein Leben lang, bis man gar nichts mehr außer Warten hat, nur das Warten, nur die lang gezogenen Sonntage, die irgendeine alte Art von Seelenstaub auf sich ziehen. Vielleicht genoss es Ilja, dass es jemanden in der Ferne gab, der dieses Warten so wie ich beherrschte. Vielleicht liebte Ilja nicht mich. Vielleicht liebte Ilja mein Warten.

    Die Sehnsucht nach Ilja verlangte nach einer Meisterschaft, wie sie nicht einmal ich aufbringen konnte. Überall gehen Liebende herum, bleiben stehen, küssen sich, sagen sich Sätze ins Ohr, die du an ihrem Lächeln deuten, erkennen, ablesen kannst, sie streichen einander übers Haar, ziehen Shirts zurecht, die Sakkos, die Blazer; die Sonnenbrillen werden zurechtgerückt. Und dann ist es Winter, wie es noch nie Winter gewesen ist, ganz schnell und mit einer Plötzlichkeit, die du nur aus Filmen kennst, ist der Winter da. Du packst deinen wärmsten Mantel aus, mit orangefarbenem Futter. Nur durch das Futter, durch den Blick auf dieses leuchtende Orange, wirst du überleben. Ich hasse Ilja schon jetzt, sage ich mir, auf die gleiche Art und Weise wie ich ihn geliebt habe. Er selbst hat es mir vorausgesagt. Ilja hat gesagt, du wirst mich hassen, eines Tages wirst du mich hassen, so, wie man eine Krankheit hasst. Ich habe ihm widersprochen, nie, niemals, habe ich zu Ilja gesagt, werde ich in der Lage sein, so einen Menschen wie dich zu hassen.
    Aber Ilja hat Recht behalten. Der Grund dafür ist schlicht, Ilja wusste, was er kann und was er nicht kann. Dazu gehörte, dass er niemals bereit sein würde, ein neues Leben anzufangen. Auch der Grund dafür, so sagte er es einmal selbst, der Grund war schlicht.
    Ilja hatte schon ein gutes Leben. Und in dieses gute Leben passten weder eigene noch fremde Tränen. Ilja nahm lieber Kokain, als zu weinen. Er hätte mir beinahe einmal eine Ohrfeige gegeben, weil ich, sagte er, unangekündigt geweint hatte. Er

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